Verhaltensoriginelle Kinder – Wegbereiter für eine lebbare Welt

Henning Köhler

Genau genommen ist »Verhaltensauffälligkeit« ein wertneutraler Begriff für statistisch seltene Handlungs- und Kommunikationsstile. Ein Kind wird in der Regel dann als verhaltensauffällig bezeichnet, wenn es – nicht nur vorübergehend – ein sonderbares, mit sozialen Spannungen einhergehendes, erzieherisch kaum mehr zugängliches Verhalten an den Tag legt, ohne dass auf Anhieb eine Krankheit oder Entwicklungsbeeinträchtigung erkennbar wäre.

Der individuelle Lebensentwurf

Ich stehe dem gegenwärtigen Trend, alles, was nicht umweltbedingt ist, auf die Gene zurückzuführen, skeptisch gegenüber. Stattdessen lasse ich mich von der Grundidee des individuellen Lebensentwurfs leiten, der mit den Anpassungsforderungen des »normalen« Lebens in Konflikt geraten kann. Dabei handelt es sich um schöpferische Konflikte, die allerdings unter misslichen Bedingungen krankhafte Züge annehmen können.

Besonders misslich sind die Bedingungen, wenn eine vorurteilsbeladene Mitwelt den Anpassungskonflikt sogleich als Anpassungsstörung bewertet und gar nicht für möglich hält, dass etwas tief Berechtigtes, Sinnhaftes darin zum Ausdruck kommen könnte. Ich gehe hingegen davon aus, dass jeder Mensch von Anfang seines Lebens an einem ureigenen »leitenden Willen« folgt. Nicht nur die Lernfähigkeit und die Lernlust sind uns angeboren, sondern offenbar auch bestimmte Neigungen, so oder so zu lernen: eine individuelle »Entwicklungsregie«, erkennbar schon an frühen Besonderheiten des Sich-Einlebens in die Welt.

Könnte es neben genetischen Faktoren und Umwelteinflüssen noch einen dritten entwicklungsbestimmenden Faktor geben? Nicht nur Anhänger Rudolf Steiners halten das für möglich. Manches spricht für die Annahme eines individuellen biographischen Richtungsimpulses, anders ausgedrückt: eines Kernsubjekts, welches tatsächlich nach »freier Entfaltung« strebt und dabei seinen eigenen Gesetzen folgt gemäß dem Motto Rudolf Steiners: »Geistig gesehen, ist jeder Mensch eine Gattung für sich.« Und so würde das neugeborene Kind, so es denn könnte, zu uns sprechen: Ich will meinem Stern folgen, auch wenn es ein steiniger Weg sein wird und alle Welt mir zu verstehen gibt, es sei der falsche …

Verhaltensoriginelle Kinder

Viele Kinder, die zunächst keineswegs krank oder gestört sind, sondern wegen ihres besonderen Wahrnehmungs-, Lern- und Kommunikationsstils aus dem Rahmen fallen, werden im Laufe der Zeit durch das Unverständnis der Mitwelt und dadurch, dass sie, wohin sie auch kommen, abwehrende, verärgerte Reaktionen auslösen, regelrecht zermürbt. Man gibt ihnen ständig zu verstehen, sie seien so, wie sie sind, unannehmbar. Wie soll das ein Mensch aushalten? Häufig beginnt der Leidensweg erst so richtig im zweiten oder dritten Schuljahr. Irgendwann ist aus dem besonderen Kind ein unglückliches, frustriertes, unmotiviertes, tief enttäuschtes Kind mit paranoidem Abwehr- oder Vermeidungsverhalten geworden. Nicht selten kommt es dann infolge der seelischen Dauerbelastung auch zu allerlei körperlichen Beschwerden. In solchen Fällen muss man besorgt auf die Jugendjahre hinblicken, denn das ruinierte Selbstwertgefühl ist ein schlechtes Omen für den pubertären Identitätskonflikt. Hier sind wir bei der Kernfrage: Wimmelt es in unserer schönen neuen Welt tatsächlich von »dysfunktionalen« Kindern? Abgesehen davon, dass Etikettierungen wie diese per se fragwürdig sind, liegt nach meiner Beobachtung oft ein Problem vor, das immer noch viel zu wenig diskutiert wird: Reich begabte und eigentlich auch hoch motivierte Kinder geraten so unter Druck und werden in ihrer Besonderheit so verkannt, dass sie gar nicht anders können, als sich »schräg« zu verhalten. Und irgendwann erreicht dann ihre Verunsicherung tatsächlich einen Grad, der therapeutisches Eingreifen erforderlich macht.

Der unbehauste Mensch

Die hektische, lärmende, medienbeherrschte, phantasie­tötende Alltagswelt in den städtischen und stadtnahen Lebensverhältnissen ist in hohem Maße belastend für Kinder, das steht außer Zweifel. Einerseits sind sie heute einem permanenten Überreizungsstress ausgesetzt, andererseits mangelt es ihnen an zwanglos entwicklungsfördernden Erfahrungsfeldern. Durch die Entfremdung von den Naturreichen entfällt eine unersetzliche Schule des Lebens. Spielen in freier Natur trägt nicht nur zur Reifung der Leibsinne bei, sondern vermittelt den Kindern auch ein ganz ursprüngliches religiöses Gefühl, das ich als Rückverbundenheit zur Sphäre der schöpferischen Urkräfte bezeichnen möchte. Es geht konkret darum, dass Beeinträchtigungen der taktilen und sensomotorischen Integration heute schon ganz normal sind.

Die meisten Menschen leiden bis zu einem gewissen Grad unter sensorischer Verarmung einerseits, sensorischem Stress andererseits, und oft geht dies mit peinvollen Unwirklichkeitsgefühlen oder Zuständen des Nicht-wollen-Könnens, der Ruhelosigkeit und Furchtsamkeit einher. Viele Kinder fühlen sich, um einen Ausdruck Goethes aufzugreifen, »unbehaust«. Ihr Leib ist ihnen keine sichere Burg. Man könnte fortfahren mit der Aufzählung erhöhter Zivilisationsrisiken, und es läge mir ganz fern, diese zu leugnen. Aber selten wird gesprochen vom Risiko der völlig ungesunden Anpassungszwänge, denen Kinder heute unter­liegen. Ein nachgerade neurotisches Normalitäts- und Funktionalitätsdenken beherrscht die Welt der Erwachsenen und macht vor den Kleinsten nicht mehr Halt.

Ausbruch aus dem Bewusstseinskäfig

Kinderfeindlichkeit ist heute vor allem ein strukturelles Problem, in welchem sich wiederum ein Bewusstseinsproblem spiegelt. Unsere Kultur wendet sich gegen die Lebens- und Seelenbedürfnisse von Kindern – und damit gegen sich selbst. Manchmal denke ich, wir müssten, um Abhilfe zu schaffen, anders gesagt: um herauszufinden, was kulturtherapeutisch wirken könnte, vor allem auf jene Kinder schauen, die vor dem Tribunal konformistischen Denkens kein Verständnis zu erwarten haben. Wie, wenn sie gekommen wären, um uns wachzurütteln? – Viele von denen, die als anpassungsgestört gelten, sind, bei Licht betrachtet, hundertmal »gesünder« als der angepasste Normalbürger, der schon gar nicht mehr weiß, was ihm fehlt, um sich als ganzer Mensch zu fühlen; der seine Sehnsucht zum Schweigen gebracht, den inneren Tänzer in Ketten gelegt, das Staunen verlernt, das Spielen vergessen, kurz: den »Sozialisation« genannten Selbstverleugnungs- und Abstumpfungsprozess erfolgreich vollzogen hat. Wir sollten dankbar sein, wenn immer mehr Kinder sich einfinden, die uns zu verstehen geben: Ihr müsst aus dem Bewusstseinskäfig eurer »geordneten Verhältnisse« ausbrechen, denn in diesem Klima können wir nicht gedeihen.

Blind für Originalität

In vielen Fällen reagieren Kinder mit Ratlosigkeit, Erschrockenheit und Verwirrtheit darauf, dass ihre besonderen Begabungen nicht erkannt werden, und man deutet dann die Zeichen des Unverstandenseins als Defizite. Wir sind oft blind für den Appellationscharakter der Originalität, und dieser Irrtum kann eine Dynamik auslösen, die dazu führt, dass das jeweilige Fähigkeitenpotenzial keine Entfaltungsräume findet und im wahrsten Sinne des Wortes eine »seelische Behinderung« entsteht: Das Kind ist durch unsere Unfähigkeit, zu erkennen, welche Schätze in ihm ruhen, daran gehindert, diese zu bergen. Wir sind besessen vom Leitbild des reibungslos funktionierenden Menschen. Daher die Gleich­setzung von »gesund« und »normal«, der sofort einsetzende therapeutische Aktionismus bei jeder Art von Auffälligkeit. Die Uniformitätsmagie ist ein Aspekt dieser Funktionalitätsmagie: Immer geringfügigere Abweichungen von der einheitlichen Linie werden als intolerable Fehlentwicklungen eingestuft und direkt oder indirekt pathologisiert.

Abweichende Begabungsprofile

Ich begegne als Erziehungsberater und Therapeut von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer häufiger den scheuen, schüchternen, lauschend zurückgeneigten, stets etwas traurigen Dämmerungskindern, wie z.B. Eduard Mörike eines war. Sie scheinen wirklich aus einer anderen Welt zu kommen und scheuen offenbar davor zurück, sich auf diese hier vorbehaltlos einzulassen. Man kann von Poetenseelen oder Märchenlandfahrern sprechen – wegen des unerhörten Bilderreichtums, der in ihnen schlummert. Sie sind auf ihre Art sehr klug, lernen aber nur, wenn man an ihre spezifische Klugheit appelliert und ihr Tempo kennt. Gemächlichkeit, Geduld, Besonnenheit ist ihr Lebenselement. Sie lieben die Stille. – Zu ihnen gesellen sich oft freundschaftlich die Erdkinder: meist Buben mit einem liebenswert koboldhaften Zug, etwas finster, reichlich bockig, Experten für alles Handgreifliche und Praktische, geborene Mechaniker. Sie lieben Geschichten von Erfindern, weil sie selbst Erfinderseelen sind, allerdings mit einer Gemüts- und Interessenlage, die eher ins siebzehnte oder achtzehnte Jahrhundert passen würde. Viele von ihnen sind sehr naturverbunden und haben einen ausgeprägten Sinn für Substanzqualitäten. Steine, Erdgut, Hölzer sind ihnen urvertraut. Ihre Landschaft ist das Gebirge. Alles, was mit Bäumen zu tun hat, hat auch mit ihnen zu tun. Die dem Erdreich zugehörigen Elementarwesen sind ihre Freunde. Sie lieben Experimente in der Chemie und Physik, weniger hingegen das Rechnen. Wenn ich diese Kinder vor mir habe, tauchen verschiedene Bilder auf: Kräutersammler, Alchimist, Schnitzer, Goldschmied.

Hüter der Wirklichkeit kann man sie nennen. Ihr Problem: Sie lernen entweder mit Praxisbezug, mit allen Sinnen oder gar nicht. Viele von ihnen gelten als Schulversager, Teilleistungsgestörte, Minderbegabte. Ihre Stärken, falls man sie überhaupt sieht, zählen nicht viel heutzutage. Sie lieben klare, einfache Worte.

Jeder Pädagoge kennt den zarthäutigen, feinwahrnehmenden, seelenvollen, überaus fürsorglichen und mitleidigen Typ der Fühlkinder, oft Mädchen (oder mädchenhaft wirkende Buben). Sie sind sehr ängstlich, dadurch auch manchmal tyrannisch in den Äußerungen ihres Bedürfnisses nach Geborgenheit. Auf mich wirken manche von ihnen so, als seien sie bis in die Jugendjahre hinein erschrocken, überhaupt auf der Welt zu sein. Nennen wir diese Kinder Tröster- oder Pflegerseelen, weil damit ihre größte Stärke umschrieben ist. Frappierend früh fühlen sie sich für Mitmenschen verantwortlich und nehmen manchmal, ihrer Angstgestimmtheit zum Trotz, erstaunliche Risiken auf sich, um jemandem beizustehen, zum Beispiel einem in Not geratenen Tier.

Wer ein anderes Kind in ihrer Gegenwart ungerecht behandelt, trifft damit auch sie. Manche von ihnen sind in der Schule geradezu beängstigend fleißig und ernsthaft, neigen aber auch zur Schulangst, weil sie sich dauernd überfordern. Andere können ihre Schwierigkeiten im Bereich des formalen, abstrakten Lernens nicht verbergen. Sie sind intelligent – Stichwort: emotionale Intelligenz –, aber das Reich der seelenlosen »Fakten« ängstigt sie. Erst mit dreizehn, vierzehn Jahren legt sich diese Angst langsam. Trösterseelen brauchen das Erlebnis der zwischenmenschlichen Sinnhaftigkeit des Lernens, um wirklich interessiert bei der Sache zu sein. Anderenfalls langweilen sie sich nur, trotz ihres Fleißes. Es gibt für diese Kinder keine bessere »Motivationsverstärkung«, als etwas für jemanden zu tun. Lernen, um später anderen helfen zu können – das überzeugt sie. Wenn es in der Schule gelingt, Wissen und Fähigkeiten im Kontext »Pflege, Fürsorge, Heilen und Schenken« zu vermitteln, hat man Fühlkinder gewonnen. –

Schließlich die ungeduldig vorwärtsdrängenden, erlebnishungrigen, »hyperaktiven« Sturmkinder oder auch Sucher­seelen. Ihnen muss man, um sie für das Lernen zu begeistern, immer etwas Neues, Aufregendes, Herausforderndes bieten. Sie wollen sich bewegen, mitreden, diskutieren, mitentscheiden, in kühnen Plänen schwelgen, Abenteuer erleben. Und ganz nah dran sein an dem, was die heutige Zeit bietet. So ist es pädagogisch kontraproduktiv, Sturmkinder auf Dauer von den neuen Technologien fernzuhalten. Sie fühlen sich nicht nur dazu hingezogen, sondern haben auch Geschick dafür! Gleichwohl ist ihnen die Natur ein Labsal. Dort werden sie ruhig. Ihr Freiheitsdurst setzt uns in Erstaunen, ihre Zügellosigkeit wirft große pädagogische Probleme auf. Andererseits gibt es kaum hilfsbereitere, kreativere, originellere Kinder als diese, von denen es manchmal heißt, sie pubertierten kindheitslang. Aus integrativen Tagesstätten und Schulen wird immer wieder berichtet, dass man Sucherseelenkinder ganz selbstverständlich und überaus engagiert an der Seite der besonders Hilfebedürftigen findet. Tatkräftiges Lernen in einer offenen, ungezwungenen Werkstattatmosphäre liegt ihnen. Oder draußen im Freien. Dürfen sie z. B. in die Rolle von Tierverhaltensforschern schlüpfen, ist man bass erstaunt, wie ausdauernd und gesammelt sie auf ihrem Beobachtungsposten verharren können. Auch an großzügigen künstlerischen oder materialverarbeitenden Projekten (Musik oder Theater) beteiligen sie sich gern, lieben Improvisationen mit Trommeln, Klangstäben und so weiter. Alles Kleinkarierte, Monotone macht Sturmkinder ganz verrückt. Ich will nicht so weit gehen zu behaupten, sie könnten Gedanken lesen. Aber ihre Fähigkeit, auf Fragen zu antworten, die man noch gar nicht gestellt hat, kann einen schon stutzig machen. –

Zweifellos gab es die beschriebenen Wesensveranlagungen schon immer. Aber noch nie waren sie bei so vielen Kindern so radikal, ich möchte fast sagen: unbeugsam ausgeprägt.

Tugend der Aufmerksamkeit

Man darf Gemeinsamkeiten der Konstitution und Charakterlage nicht überbetonen und die Individualität hinter dem Typus verschwinden lassen. Weitaus wichtiger als kategoriale Zuordnungen, seien sie auch von negativen Vorurteilen bereinigt, ist tiefes, ungeteiltes, unverstelltes, unvoreingenommenes Interesse für das »aus dem Geheimnis ansprechende Du« (Martin Buber). So entsteht eine Atmosphäre, in der sich das Kind zeigen kann: »Sieh her, hier bin ich!« Ist eine gründlichere Diagnostik nötig, wird diese in der bezeichneten Haltung einen ganz anderen Charakter annehmen, als wenn sie vor allem die Markierung von Defiziten dienen soll. Hier stoßen wir auf ein Geheimnis. Jenseits des Bewertungszwangs öffnet sich ein neues Wahrnehmungsorgan für die Schönheit des anderen Menschen. Was einen da berührt, hat freilich nicht das Geringste zu tun mit irgendeiner Gefühls­duselei. Immerfort von den Kindern entzückt zu sein, wäre genauso falsch wie die Fixierung auf Mängel. Was ich meine, hat mit Ehrfurcht zu tun. Jenseits von Sympathie und Antipathie. –

Die Zeit braucht Erwachsene mit innerer Offenheit, mehr noch: Begeisterungsfähigkeit für das Abweichende, Unerwartete, Eigenwillige.

Zum Autor: Henning Köhler ist Heilpädagoge und Leiter des Janusz-Korczak-Instituts in Nürtigen