Die Internationale Klasse in Kassel

Johannes Hüttich

Durch die Sozialpraktika der 11. Klasse in Flüchtlingsheimen und Erstaufnahme­lagern entwickelte sich bei den Oberstufenschülern ein reger Gedankenaustausch über die große Not der betroffenen Menschen: Wie kann ich als Einzelner, wie können wir als Gesellschaft, als Schule reagieren? Den Jugendlichen vorzuleben, dass eine Gemeinschaft fähig ist, in kürzester Zeit Schulplätze für über 16-Jährige nicht mehr schulpflichtige Zufluchtsuchende einzurichten, war die Grundintention unseres Handelns. Die Aussicht, innerhalb des Berufsbildenden Gemeinschaftswerkes im Schutzraum Schule eine grundständige Ausbildung in Holz-, Elektro- oder Metallberufen zu ermöglichen, wurde dann eine weitere, wie sich herausstellte, optimale Voraussetzung für ein solches Vorhaben.

Veränderung statt Integration

Welches Konzept können wir aus der Waldorfpädagogik entwickeln, das die bisher verkündeten Integrationsziele Sprachkompetenz, Schulabschlüsse oder Berufsqualifikationen einschließt, und über sie hinausgeht, indem Individuation gefördert wird? Dazu gehören erstens die (Wieder-)Herstellung von Selbstbezug und Vertrauen zu eigenen Zielen und Möglichkeiten und zweitens ein Weltbezug, der davon ausgeht, dass alles, was einem Individuum begegnet, Gelegenheit zum Selbstaufruf und zur Selbstwerdung ist. Wir wollen fruchtbar machen, was in jedem Individuum an Möglichkeiten und Intentionen liegt. Das heißt, die hier Ankommenden sollen nicht einfach nur in das Bestehende integriert und einer wirtschaftlichen Verwendung zugeführt, sondern als Individuen betrachtet werden, die unsere Gesellschaft aus ihrer biographischen Situation heraus verändern. Ohne die Notwendigkeit von Spracherwerb und schulischer Qualifikation in Frage zu stellen, muss festgestellt werden, dass Integration als Sozialisationsakt in Bestehendem zu kurz greift, denn sie lässt die Tatsache unberücksichtigt, dass jeder Mensch seine biographischen Ziele und Möglichkeiten in sich trägt und nach dem der Waldorfpädagogik zugrundeliegenden Menschenverständnis gerade diese biographische Einzigartigkeit jede menschliche Gemeinschaft bereichert und erneuert.

Eins-zu-eins-Betreuung ist nötig

Den Hauptunterricht erteilen wir im Teamteaching, Deutsch ist Zweitsprache. Anschließend werden die 20 Schüler in die verschiedenen Unterrichte der 9. und 10. Klasse aufgeteilt. Insbesondere die künstlerisch-praktischen Fächer ermöglichen unmittelbaren Kontakt zu den Regelschülern. Nahezu die Hälfte der Neuankömmlinge ist meist mehrfach traumatisiert. Deshalb ist eine enge Zusammenarbeit mit den individuellen Sozialbegleitern wichtig. Das Angebot der Freunde der Erziehungskunst, die Bundesfreiwilligendienstler (BuFDi) für die Flüchtlingsarbeit zu uns zu vermitteln, haben wir dankbar angenommen. Ständige Begleiterin und erste Ansprechpartnerin ist eine Praktikantin im dritten Ausbildungsjahr des Rudolf Steiner Instituts Kassel. Sie fand einen Tafelaufschrieb nach vierwöchigem Beginn: »Ich bin glücklich, weil ich meine Trauer vergessen will.«

Die vorhandene Schulsozialarbeit erleichtert die Eingliederung der Zugereisten nicht nur in der Schule, sondern auch in der Werkstatt.

Der Alltag zeigt, dass jeder Unterricht durch ein Team – zumindest aber mit Assistenz durchgeführt werden muss. Lernpaten unterstützen durch Einzelgespräche. Die Eins-zu-eins-Betreuung von männlichen Lehrkräften für Jungen und weiblichen Lehrkräften für Mädchen ist fester Bestandteil des Stundenplans geworden. Darin versuchen wir, ihnen die Perspektivlosigkeit zu nehmen, zu erfahren, welche Verwandten wo leben, und wie sie in unser Land gekommen sind: Sind es Flüchtlinge, die lange Überfahrten über das Meer hinter sich haben oder mit einer Fahrkarte gekommen sind? Die Ergebnisse dieser Gespräche haben unmittelbare Auswirkungen auf die Entwicklungsberatung, die zu einer anfänglichen Berufsberatung führen können. Der Wunsch, Ingenieur oder Ärztin zu werden, ist oftmals zu hoch angesetzt. Es gilt, erst einmal anzukommen in Sprache, Raum und Zeit.

Die Jugendlichen müssen sich einerseits von ihren Repräsentanten, Eltern, Gesellschaft und Staat emanzipieren und andererseits hier eine neue Identität aufbauen, in die die Werte und Haltungen sowohl ihrer Herkunfts- als auch Aufnahmekultur einfließen. Dabei entfällt die Zusammenarbeit mit den Eltern, die eine tragende Rolle im Waldorfkonzept haben. Insofern müssen Erzieher, Begleiter und Pädagogen im Rahmen ihrer Tätigkeitsbereiche bereit sein, »Elternfunktion« zu übernehmen. Es hat sich in der Praxis gezeigt, dass unbegleitete jugendliche Migranten das Bedürfnis haben, Ansprechpartner und Begleiter zu finden, die sie selbst aussuchen. Der Aufbau interkultureller Kompetenz neben der Sprachförderung ist dringend notwendig. Ein Baustein ist nicht nur, unsere Geschichte und Kultur zu vermitteln, sondern auch ein Verständnis der anderen Kulturen zu entwickeln, aus denen die Jugendlichen kommen. Ein darauf zugeschnittener Geschichtsunterricht entsteht mit Hilfe des Seminars Kassel. Wir wollen ein für Zugereiste und Flüchtlinge tragfähiges und zukunftsfähiges Bildungskonzept anbieten. Dazu ist es nötig, die Lehrer ständig neu zu qualifizieren und ein Netzwerk mit Partnereinrichtungen einzurichten. Das Projekt wird von der Alanus Hochschule Alfter wissenschaftlich evaluiert.

Initiation zu sich selbst

Unser oberstes Ziel ist es, Vertrauen in die eigene Denkfähigkeit zu entwickeln. Der Aufbau von Epochen in drei bis vier Wochenschritten gibt den Neuankömmlingen die Möglichkeit, an den Wissens- und Erkenntnisstand der gleichaltrigen Regelschüler anzuknüpfen. Dabei erweist sich die eigene Dokumentation und Übung der schriftlichen und zeichnerischen Zusammenfassung als Einstieg in selbstständiges Arbeiten. Diejenigen, die nicht schreiben können, bekommen zusätzliche Hilfe durch Lernbegleiter und Fördermaßnahmen, die wir vor allem für die Mädchen eingerichtet haben. Im naturwissenschaftlichen Unterricht bewährt sich der phänomenologische Ansatz aus den Jahrgangsstufen 7-10 besonders für die Techniksozialisierung im berufsbildenden Bereich, das heißt, es geht darum, die technischen Begriffe an die Schüler heranzubringen. Schließlich ermöglicht die künstlerische Tätigkeit einerseits die schrittweise innere Verarbeitung der drastischen Erlebnisse, andererseits die Selbstentdeckung, die in unserem Konzept als »Initiation zu sich selbst« bezeichnet wird.

Mit Ämtern, Betrieben und Unternehmen den Übergang gestalten

Es ist uns ein Anliegen, einen verlässlichen Ausbildungsort gegenüber Jugendamt, Schulamt und Industriepartnern zu bieten, die uns inzwischen auch empfehlen. Der Zeitaufwand der Meister und Berufsschullehrer innerhalb des Berufsbildenden Gemeinschaftswerks ist bei den Neuankömmlingen dreimal so hoch wie bei Regelschülern. Auch der sozialpädagogische Aufwand ist gewaltig, da die Schüler mit 18 Jahren oftmals aus der Begleitung der Jugendämter fallen und selbstständig wohnen. Verschiedene Betriebe und Unternehmen boten uns Praktikantenplätze und Patenschaften an, um sie nach zwei Jahren in reguläre Ausbildungsgänge umzuwandeln. Bisher konnten wir die Kosten von 100.000 Euro durch freie Spenden von Unternehmen, Bürgerstiftungen, Schenkungsgelder der Elternschaft und den Ertrag des Spendenlaufs unserer Schüler decken. Um eine dauerhafte Personalplanung und eine kontinuierliche Finanzierung über mehr als drei Jahre zu ermöglichen, stehen wir als Schule in weiteren Verhandlungen mit potenziellen Geldgebern und Stiftungen.

Zum Autor: Johannes Hüttich ist Religions-, Physik- und Mathematiklehrer an der Freien Waldorfschule Kassel