Sehkunde

Anna Ribeau

Ich erinnere mich: Vor etwa 15 Jahren bin ich zu einer Demo gegen den Krieg in Afghanistan nach Berlin gefahren. Heute habe ich es hautnah mit Kindern aus Afghanistan zu tun. Sie sind in etwa so viele Jahre alt, wie die Demo her ist. Jugendliche, die früh erwachsen werden mussten. Wir wiederum sind spät erwacht.

Im Wartezimmer

Ein 16-jähriger unbegleiteter Flüchtlingsjunge und ich sitzen im Wartezimmer einer Arztpraxis. Ich blättere in einer Zeitschrift, verharre auf einer Seite, sehe da ein Bild, aber nehme es nicht wirklich wahr, registriere bloß: Meer, Jugendlicher mit Schwimmweste, der Teil eines Bootes. Aber es tangiert mich nicht. Es geht unter in den Bilderfluten. Ich wende meinen Kopf, bemerke, dass M. mir über die Schulter blickt, mit ernstem Gesicht, nachdenklich. Er erkennt auf dem Bild mehr als ich. Er schaut auf das Bild in meinen Händen, durch das Bild hindurch, in seine Erinnerungen: Das Meer, das er selbst in einem Boot mit einer Schwimmweste überquert hat. Es rückt mir etwas Unbegreifliches in greifbare Nähe. Das Bild unter meinen Händen schwindet, als sei der Junge, der hier direkt neben mir sitzt, gerade erst aus den Seiten zu mir herausgestiegen. Der auf dem Bild abgebildete junge Mann war der letzte Über­lebende. An den Bug des Schiffs geklammert, der noch aus dem Wasser herausragt, hatte er überlebt. Der Rest der Geschichte war unter der Oberfläche des Wassers verschwunden – nicht sichtbar. Wie hatte ich ihn übersehen können? Ja, ich hatte den Bug gesehen. Aber ich war nicht wach gewesen. Die Geschichte des Jungen auf dem Boot, seine Botschaft als Überlebender, das Ausmaß der Tragödie hatte ich überhört.

Die Wunde

Was übersehen wir tagtäglich, weil es unter der Oberfläche liegt? Das so naheliegend ist, dass wir es übersehen, an dem wir achtlos vorbeigehen, von dem wir uns nicht ansprechen lassen, aus Angst vor der eigenen Verantwortung? Wenn ein Bild Teil unserer Geschichte wird? Beim Arzt, ohne das Bewusstsein einer eigenen Erkrankung. Begegnungen, Bilder, aus denen ich unverändert hervorgehe. Bin ich blind für die Wunde? Indem ich verantworte, was ich wahrnehme, indem ich wahrnehme, was mir im Alltag begegnet, indem ich trage und ertrage, was mir entgegenkommt, werde ich sehend und kann eine Brücke bauen, in meine Gegenwart hinein, die mit mir zu tun hat. Ich hebe den Blick aus der Zeitschrift heraus und erkenne, dass der Junge neben mir sitzt, im Wartezimmer. Er wartet. Er erwartet, dass ich sehend werde. Jetzt kann ich ihn berühren, denn er berührt mich. Ich werde zur Überlebenden, ich werde über Leben neu nachdenken. Wir sehen uns an.

Welcome WG

Ich arbeite mit unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA). In Deutschland angekommen, fallen sie unter das Kinder- und Jugendschutzgesetz. Sie bekommen einen Vormund, der meist für viele Jugendliche gleichzeitig die Vormundschaft übernimmt und für die behördliche Seite zuständig ist, was Unterschriften und Anträge betrifft. Die Erstaufnahmeeinrichtung nennt sich »Welcome WG«. Hier durchlaufen rund 40 Jugendliche ein sogenanntes »Clearingverfahren«. Ich begleite Jungs, die diesen ers­ten Schritt schon hinter sich haben und in die »Verselbstständigung« kommen sollen. Sie leben dann in kleinen Gruppen selbstständig in einer Wohnung und werden dabei begleitet. Einkaufen gehen, gemeinsam Essenkochen und Essen, Arzttermine, Sportverein, Gespräche bei Tee, im Jugendtreff Kicker spielen …

Erwartung

Ich habe nicht mit dem gerechnet, was ich durch die Arbeit mit den UMAs aus Syrien, Irak, Iran, Afghanistan und Gambia tagtäglich erlebe. Ich bin verblüfft und fasziniert von der Offenheit, dem Respekt, der Neugier, den lachenden Augen – trotz Schiffbrüchen, Bombenanschlägen, Verlusten von Familienangehörigen … Und jetzt stattdessen: Deutschunterricht, Schule, Pflegefamilien, Verselbstständigung, Zusammenführungen, Dolmetschertermine, Jugendamt, Fußball …

Digitale Nabelschnur

Es wird ernst, wenn die tragischen Szenen, die sich abgespielt haben, hochkommen. Wir verständigen uns mit Händen und Füßen, mit Worten aus den unterschiedlichen Sprachen und mit Zeichnungen. Meine Handy-Sprach-App habe ich schon lange nicht mehr benutzt. Es funktioniert besser ohne. Sie teilen ihre Bilder und Erlebnisse gerne. Die Handys, oft mit zerborstener Scheibe und Kratzern, denen man die Reisestrapazen ansieht. Es ist die Nabelschnur zu ihrer Heimat, mit der sie noch eine Verbindung aufrecht erhalten. Ein Junge fragt mich, ob ich sein Land sehen möchte. Ich schaue auf den kleinen Bildschirm und bemerke, dass er eine Liveaufnahme aus seiner Heimat bekommt. Sein großer Bruder in Afghanistan hält sein Handy gerade für mich dort in der Fremde in die wüstenhafte, bergige Landschaft, um mir das Land zu zeigen! Dann grüßen wir einander durch die Ferne durch einen wundersamen Zauberspiegel. Was spiegelt er mir?

Zur Autorin: Anna Ribeau war Waldorfschülerin, studierte Literatur- und Sprachwissenschaft, aktuell Psychologie, dichtet und ist Mutter von vier Kindern.

www.geh-dicht.info