Pilgerweg zum Ich

Thomas Stöckli

Wir Erwachsene dürfen uns nicht von den schmerzlichen Individualisierungskrisen beirren lassen, hinter denen sich das Mysterium des innersten Wesenskerns des Menschen verbirgt. Es ist ein Pilgerweg zum Ich. Wie begleitet diesen Lebensabschnitt der Lehrplan der Waldorfschule –  zum Beispiel in der Literatur der 11. und 12. Klasse?

Beginnen wir mit den Entwicklungsmotiven, die wir im mittelalterlichen Epos »Parzival« finden. Es handelt sich um das Reifealter des jungen Menschen, mit seinen Idealen, seiner Sehnsucht nach Liebe und Sinn-Erfüllung, dem Hunger nach Welterfahrung. Doch Parzival, dieser junge, naive, weltfremde Mensch bricht das Herz seiner Mutter Soltane durch sein ungestümes Ausbrechen aus der behüteten Welt. Und so wie Parzival in die Welt hineinreitet, um Abenteuer zu suchen, so geht es jedem jungen Menschen. Auch eine schöne Waldorfschule kann ein Stück »Soltane« sein, aus der es auszubrechen gilt. Der junge Mensch hat den natürlichen Drang, die noch unbekannte, spannende, gefährliche Welt außerhalb der umfriedeten Zone kennenzulernen, und zwar  existenziell, wie der Name sagt, »Par-ce-Val«, mitten hindurch, mitten im Leben. Trotz der Narrenkleider, die ihm von Kindheit und Pubertät her noch anhaften, mag ihm durch das ungestüme Auftreten manche Eroberung gelingen, Autoritäten werden gestürzt. Die dabei erkämpfte »Erwachsenenrüstung« kann ihm das Gefühl geben, nun schon ein richtiger Erwachsener zu sein.

Doch reif ist Parzival noch nicht, gehört doch zur mensch­­lichen Reife auch das Mitgefühl, eine Empathie für die Mitmenschen, die erst die Ideale erdet und mit verantwortungs- bewussten Taten verbindet. Als Parzival in der Gralsburg versäumt, die entscheidende Frage aus Mitgefühl zu stellen, wird er vom Gral abgewiesen.

Er irrt danach jahrelang in der Welt herum, wird schuldig an seinen Mitmenschen, beginnt an sich, am Sinn des Lebens, an Gott zu zweifeln. Doch tief in seinem Herzen treibt ihn die Sehnsucht immer weiter, die Sehnsucht nach wahrer Liebe, so dass er trotz aller Zweifel weiterkämpft, weitersucht, und glücklicherweise immer wieder auf reife Menschen trifft, die den »Hebammendienst« zugunsten seiner Ich-Reifung selbstlos leisten und ihm lebensentscheidende Hinweise geben. Dieses mittelalterliche Ritterepos kann mit anderen Beispielen aus der modernen Literatur ergänzt werden, die Seelenentwicklungen im 21. Jahrhundert verstehen helfen. Vielleicht findet eine sensible Schülerin einen Bezug zur Lebensgeschichte der zarten jungen Studentin im bekannten Roman »Agnes« von Peter Stamm.

Stille Revolutionäre

Agnes, eine zerbrechliche Seele auf der Suche nach dem Du, die sich selber und auch die Liebe nicht verstehen kann, aber weiß, diese kalte Welt erträgt sie nicht, will sie nicht! Sie lebt im Hochrisikobereich der Ich-Suche, es ist unklar, ob sie in der Welt erfriert oder die Kraft für einen Neubeginn findet. »Stille Revolutionäre«, so nannte eine Zwölftklässlerin ihre Generation der Hochsensitiven, die sich oft mittels psychischer Probleme aus der unsensiblen Leistungsgesellschaft ausklinken. Sie hoffen, auf eine Heilung in einer neuen Gesellschaft, die selber erst zur menschlichen Reife finden muss, wenn sie vom egoistischen Kampf zur Frage an den Mitmenschen und zum Handeln aus Mitgefühl finden will.

In der 12. Klasse spiegeln sich die Ich-Wehen und die Suche nach dem ureigenen Lebensweg in Goethes »Faust« in höchster Dramatik. Faust und Margarete finden einander, finden das Du, finden aber auch den Abgrund, das Böse, ihren unseligen Schatten. Es ist eine Welt der Dualität, eine Zweiheit von Ich und Mephisto, von Gut und Böse, von Mann und Frau, Körper und Geist, der die Seele von Faust prägt: »… zwei Seelen wohnen, ach in meiner Brust …« Diese Dualität entspricht dem Jugendalter, dem »Zwiespalt der Seele«, der »Entzweiung mit sich selbst«. Es ist eine Phase, in der das Denken und Wollen, die zwei Geschlechter, Sympathie und Antipathie auseinanderfallen und sich als Polaritäten gegenüberstehen. Diese Dualität spiegelt sich oft auch in einer Entzweiung mit den Erziehern und in extremen Stimmungsschwankungen.

Raus aus der Studierstube

Die vermittelnde Phantasie der Kunst, die Entwicklung der Liebeskräfte und des Mitfühlens kann in dieser Polarität der Seelenkräfte der Individualität, dem Ich, zu einer gesunden Geburt verhelfen. Und trotzdem: Niemandem kann die Dramatik, das Schuldigwerden erspart bleiben, wenn er finden will, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Der Geist der Erde, das Leben im Auf und Ab, wirft Faust zu Boden, so dass er sich als »gekrümmter Wurm«, als Nichts vorkommt, so wie auch Jugendliche sich oft vorkommen, wenn sie mit Alkohol und andern Drogen diesen Selbstzweifel wenigstens zeitweise vergessen wollen. Der Drang ist stark, aus der dumpfen Studierstube ins Freie zu gelangen, denn wie Faust fühlt der Pubertierende »Lust, sich in die Welt zu wagen, der Erde Weh, der Erde Lust zu tragen«: nicht nur im Klassenzimmer studieren und dann erkennen, dass wir letztlich »nichts wissen können« – nichts wissen von den unersetzlichen Erfahrungen des Lebens, denn diese kann jeder Mensch nur im Leben selber, in der risikobehafteten Welt erfahren. Und genau an diesem Punkt ist nicht nur eine radikal neue, innere Haltung der Pädagogen gefragt, sondern eine vollständige Metamorphose der Institution Schule.

Schule als Geburtsstätte für das Ich

Können wir die Schule noch ganz anders denken? Denn die Dualität der seelischen Entwicklung in den Schwangerschaftsjahren des Ich muss sich auch in einer Schule wiederfinden. Hier kann die Schule nicht ein eingehegter Ort bleiben, wo die gefährliche Welt draußen bleibt, auch nicht die Studierstube auf dem Weg zur akademischen Laufbahn. Hier muss die Schule den meist ausgeklammerten sogenannten »außerschulischen Bereich« auch institutionell in ihr Verständnis von Schule als »Lebens-Schule« integrieren. Der Schlüssel dazu liegt, so erstaunlich sich das vorerst anhört, in der Arbeit, der Arbeit für andere. Damit wird an Steiners neuen Arbeitsbegriff angeschlossen, wonach ein Mensch aus seinem Innern etwas gibt, schenkt, was die Umwelt, die Mitmenschen brauchen. Das Ich entdeckt, erfährt und entwickelt sich im Dienst am Andern und in der tätigen Liebe zur Welt und kann in der Oberstufe frei atmen in der Polarität zwischen den Lernorten »Schulhaus« und »Arbeitswelt«.

Arbeitend lernen, lernend arbeiten

Dieses Motiv ist bereits im »Morgenspruch« angelegt, den die jungen Menschen jeden Tag sprechen: » … dass Kraft und Segen mir zum Lernen und zur Arbeit in meinem Innern wachse«. Noch deutlicher drückt es der Spruch der Sonntagshandlung des Freien Religionsunterrichts aus: »Wir lernen, um die Welt zu verstehen. Wir lernen um in der Welt zu arbeiten. Die Liebe der Menschen zueinander belebt alle Menschenarbeit …« Steiner hat dieses Wechselspiel eine »neue Devise« genannt: »arbeitend lernen, lernend arbeiten«. In dieser Dualität stehend findet zeitgemäßes Lernen statt; Lebenslernen in seiner Polarität findet seine Steigerung und Erfüllung in der Ich-Geburt.

So steht hinter Parzival, Faust und aller literarischen Bildung der lernende Mensch, die »Einweihung« durch das Leben. »Das Leben ist der große Lehrmeister« (Steiner). Je schöner eine Schule, je besser die Lehrer im Klassenzimmer, desto wichtiger ist es, dass eine Schule im Sinne dieser Jugendpädagogik auch die Seite der »Außenwelt«, des Arbeitens und der Berufe dem jungen Menschen öffnet und in die Schule integriert. Das darf nicht nur für ein paar Wochen im Schuljahr, sondern muss für die Hälfte der Schulzeit in den obersten Klassen gelten – für alle, vor allem auch für angehende Abiturienten und Studenten! Arbeiten meint nicht nur ein paar Projektwochen und Kurzpraktika, so wertvoll und einzigartig diese sein mögen. Michael Brater stellt in seinem Buch »Beruf und Biographie« die Berufswahl, wie sie sich heute in ihrer ganzen Vielfalt darstellt, als eine »Hebamme für die Ich-Geburt« dar, denn: »Keiner sagt mir jetzt mehr, was ich tun soll, ich muss es selber herausfinden«. Und auf diesem Weg gibt es die zentrale Erfahrung des »Arbeitens«, das befreit ist von Bezahlung und Karrieredenken, von innen her motiviert, im Sinne des Antwortens auf eine Frage aus dem Leben.

Die Parzival-Erlebnisse der jungen Menschen finden heute im Leben statt. So war ich immer wieder zutiefst berührt, nicht primär von den Aufsätzen zur Literatur des mittelalterlichen Parzival-Epos, sondern von den Deutsch-Aufsätzen, in denen meine Schüler über ihr engagiertes Arbeiten berichteten und ihre tiefgehenden Erfahrungen reflektierten. Das Buch des Lebens ist erhebend und spannend – es ist das Buch des eigenen Ich, das in der Welt arbeitend lernen und lernend arbeiten will.

Es ist ein Weg mit Risiko, es ist keine sichere Burg, in der Gralshüter die Einhaltung des richtigen Lehrplans bewachen, sondern ein Weg für mutige Ritter auf der Suche nach dem Gral, für eine neue Faust-Generation, die ihr Ich – und das Du – sucht.

Zum Autor: Dr. Thomas Stöckli ist Deutschlehrer an der Regionalen Oberstufe Jura-Südfuss in Solothurn / Schweiz und berät Schulentwicklungen im Sinne des dualen Lernens (www.institut-praxis-forschung.com); er leitet eine duale Lehrerausbildung (www.afap.ch)

Literatur: Ueli-Hugova Seiler: Das Große Parzivalbuch, Stuttgart 2014; Linda Bläsi: Die stillen Revolutionäre, in Erziehungskunst, Dezember 2011; Henning Köhler: Jugend im Zwiespalt, Stuttgart 2004; Rudolf Treichler: Die Entwicklung der Seele im Lebenslauf, Stuttgart 1981; Thomas Stöckli: Lebenslernen, Berlin 2011; Peter Schneider, Inga Enderle: Das Waldorf-Berufskolleg, Frankfurt 2012; Michael Brater: Beruf und Biographie, Esslingen 1998