Zum Ich werden gehört Mut

Alexandra Handwerk

Viele Menschen haben eine besondere Begabung, von der wir früh schon ahnen, dass sie einmal eine große Rolle in ihrem Leben spielen wird. Das kann eine musikalische oder mathematische, eine Sprach- oder eine soziale Begabung sein. Doch immer wird diese Begabung durch Üben erst zu einer Fähigkeit ausgebildet werden müssen – sonst bleibt sie eben nur Begabung. Ich erinnere mich an eine alte Dame mit einer imposanten tiefen und wunderschönen Stimme. Ich fragte sie, ob sie beruflich mit der Stimme zu tun gehabt habe. Sie wurde ganz traurig. Nein, meinte sie, schon als Kind habe sie davon geträumt, einmal Sängerin zu werden und von morgens bis abends gesungen. Aber die Verhältnisse hatten immer eine Ausbildung der Stimme verhindert. Erst der Krieg, dann die Not der Nachkriegszeit, dann die Ehe und Kindererziehung. Ja, sagte sie, später habe sie sich geschämt, vor den Kindern zu singen, weil sie, wenn sie sich selbst singen hörte, nur hörte, wie schlecht ihre Stimme klang – so ganz ohne Ausbildung.

Im Heranwachsen werden wir uns langsam bewusst, dass wir zu der einen oder anderen besonderen Begabung noch eine ganz allgemeine haben, die wir mit allen Menschen teilen. Wir sind alle damit begabt, ein Ich zu sein. Begabt. Denn wenn wir mit 18 Jahren für mündig erklärt werden, merken wir, dass wir auch da erst üben müssen, bis wir eine Fähigkeit erlangt haben.

Bisher habe ich gelernt, meine Gedanken zum Lernen zu gebrauchen und auf die Phänomene der Welt anzuwenden. Ich finde in meiner Gefühlswelt eine bunte Mischung von sympathischen und unsympathischen Facetten vor. Mein Alltag besteht aus einem Gemisch von Taten, die von mir gefordert werden und anderen, die mir Spaß machen und den Tag versüßen. Alles das gehört zu mir und ich werde von meinen Bekannten daran gemessen. Aber, so sagt ständig eine kleine Stimme in mir, das bin ja nicht »Ich«. Dieses »Ich« ist ja noch viel größer, reicher, eindeutiger und gleichzeitig verschwommener, noch zukünftig, erst werdend und auf jeden Fall nicht in das zu pressen, was bisher sichtbar ist. »Ich« ist Begabung und Vorfreude auf das Staunen über uns selbst und den Anderen, wenn es einmal Fähigkeit geworden sein wird.

Das Ich übt sich im Beobachten

Aber wie wird denn dieses »Ich« ausgebildet? Welche Fähigkeiten erscheinen da? Und wer bildet es aus? Eine Beobachtung hat sicher jeder schon einmal gemacht: Mir ist etwas begegnet, mit dem ich nicht gerechnet habe und ganz unmittelbar reagiere ich darauf. Gleich danach bin ich von meiner eigenen Reaktion überrascht – wie heftig sie war oder wie gleichgültig –, in jedem Fall aber so, dass ich dadurch, dass ich meine eigene Reaktion beobachte, danach mehr über mich selbst weiß als vorher. Das ist doch erstaunlich! Ich muss mich beobachten, um mich kennenzulernen.

Wie oft höre ich von einem vertrauten Menschen: Das machst Du doch immer so! Und bin ganz erstaunt: Ich? Wirklich? Mache ich das immer so? Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Erst durch den Anderen werde ich wieder aufgefordert, mich zu beobachten. Und was beobachte ich? Ich beobachte, dass ich längst jemand geworden bin. Durch die Erziehung, durch die Umgebung, durch Prägungen.

Da endet aber die Begabung des Ich noch nicht. Es muss nicht dabei stehenbleiben, sich zu beobachten und über sich selbst zu staunen.

Das Ich reift im Werten

Das Ich ist auch damit begabt, werten zu können. Es kann dem Beobachteten einen Wert zu- oder absprechen. Um diese Sphäre der eigenen Bewertung zu entdecken, muss ich schon eine Schicht tiefer gehen, als in der bloßen Beobachtung. Wo diese Sphäre der Bewertung zu finden ist, wird am leichtesten am Widerspruch deutlich. Eine Freundin sagte letztens auf dem Schulhof: »Eben hat mir die Kassiererin beim Supermarkt aus Versehen zehn Euro zuviel rausgegeben. Tja, Glück gehabt. Das war ein sehr günstiger Einkauf.« Eine andere Mutter hakt nach: »Und du hast es ihr nicht zurückgegeben?« Die Freundin wird heftiger: »Ja wieso denn? Der Supermarkt hat viel mehr Geld als ich, es ist Ende des Monats und die Kassiererin muss das ja nicht bezahlen. Das tut doch keinem weh.« Aber indem sie das sagt, sehe ich, dass es doch einem weh tut – nämlich ihr. Durch die Nachfrage der anderen Mutter hat sie gemerkt, dass sie ihre Handlung zwar begründen kann, dass sie vordergründig vielleicht sogar Recht hat, dass der moralische Wert dieser Handlung aber nichtig ist. Sie mag die Handlung noch so sehr rechtfertigen, sie basiert trotzdem auf einer Lüge, hintergeht einen fremden Menschen.

Wo wir auf Nachfrage reagieren mit: »Was hätte ich denn machen sollen?« Oder mit: »Aber ich wollte doch bloß«, oder auch nur mit: »Aber ich habe doch Recht« – in jeder dieser Antworten stellt unser Ich den Wert einer Handlung in Frage. Denn sonst würde die Antwort klingen: »Weil ich überzeugt davon bin«, oder: »Weil ich nur dieses Verhalten verantworten kann«, oder: »Weil ich mich entschlossen habe, in genau dieser Weise zu dieser Sache zu stehen«. Und daraus wird schon eines deutlich: Um diese Begabung unseres Ich zu fördern, braucht es vor allem eines – Mut. Denn am Anfang werden wir als Erstes zu ertragen haben, dass wir Reaktionen und Handlungen an uns beobachten, deren Wert zweifelhaft ist, die wir so machen, »weil ich das schon immer so gemacht habe« oder »in unserer Familie das so üblich ist« oder »ich einfach so aus dem Bauch heraus reagiert habe«. Und fast übermenschlich muss die Anstrengung erscheinen, auf jede Situation angemessen wertvoll, das heißt Ich-voll zu reagieren.

Hätte unser Ich nur diese zwei Begabungen, es müsste an sich selbst verzweifeln. Je besser es sich beobachten könnte und je besser es den Wert seiner Handlungen einschätzen könnte, umso öfter würde es gepeinigt werden dadurch, dass so unendlich viele kleine Handlungen im Laufe des Tages nicht von dem Ich-Wert durchdrungen sind.

Das Ich wandelt sich

Das Ich hat aber noch eine dritte Begabung: Es hat die Begabung, verwandelnd zu wirken. Es muss nicht bei der Beobachtung und Bewertung seiner selbst stehen bleiben und sich dem Urteil fügen.

Ein Manager, der jeden Tag in vielen Sitzungen auszuharren hatte, erzählte mir, er habe früher oft die Geduld verloren. Dann sei er gern laut geworden und habe den Raum verlassen. Je älter er wurde, desto weniger schien ihm das ein geeignetes Mittel zu sein, es führte zu nichts, so sagte er, außer dass sein Zorn ein Ventil fand und er hatte manchmal den Verdacht, dass seine Kollegen ihn hinter seinem Rücken dafür belächelten. Es ging noch eine Weile gut, indem er sich sagte, er habe ja recht, es sei in den Sitzungen oft wirklich nicht auszuhalten. Aber als auch dieses Argument sich nicht mehr gut anfühlte, da überlegte er das erste Mal ernsthaft, ob er noch anders reagieren könne. Er überlegte und überlegte und es fiel ihm nichts ein. Trotzdem hatte er ja täglich Sitzungen. Und irgendwann, weil er nicht wieder rauspoltern wollte, aber auch nicht wusste, was sonst zu tun sei, stand er auf. Alle dachten, jetzt geht es so wie immer, aber er stand da – und weil alle ihn anguckten und schwiegen, sagte er ganz leise: »Und was soll ich jetzt tun, damit Sie merken, dass wir so nicht weiterkommen? Welche Sprache verstehen Sie denn?« Und ein enger Kollege antwortete ihm strahlend: »Diese Sprache verstehen wir! Bitte! Bleiben Sie! Wir wollen mit Ihnen zusammen schauen, wie wir an diesem Punkt weiterkommen.« An diesem Tage, erzählte er, fühlte er sich wie neugeboren.

Es braucht Mut, sich selbst ehrlich zu beobachten, es braucht noch mehr Mut, die Beobachtungen seines Handelns in Gedanken, in Worten und Taten ehrlich zu bewerten, es braucht am meisten Mut, sich öffentlich zu verwandeln. Um mich zu beobachten, brauche ich Abstand von dem, was mich in Kindheit und Jugend geprägt hat. Gerade indem ich mich aus dieser ersten Lebensgemeinschaft herauslöse und erwachsen werde, gehen mir über mich die Augen auf. Im stillen Kämmerlein werde ich mir der Werte bewusst, die ich leben will. Sie aber leben, mich in der Hilflosigkeit zeigen, die jeder echten Verwandlung eigen ist, mich schließlich als ein Verwandelter erweisen, kann ich nur mit Hilfe anderer Menschen.

Meine »alten« Freunde werden ihre Freundschaft beweisen mit: »Bleib wie Du bist«. Meine »Ich«-Freunde werden mir helfen, mich immer mehr zu mir selbst hin zu verwandeln. Erst eine Freundschaft, die mit Verwandlung rechnet und zur Verwandlung ermutigt, ist eine Freundschaft von Ich zu Ich.

Begabt zum Ich-Werden sind wir alle. Wohl dem, der in seiner Kindheit ein Instrument oder eine Sportart gründlich zur Fähigkeit ausbilden darf. Er kennt dann im späteren Leben die Bedingungen des Übens. Er wird wissen, was Wiederholung und Geduld bedeutet, dass kleine Schritte mehr bringen als große Ziele, dass »täglich« zählt, aber die Nacht der beste Helfer ist. Dass es gemeinsam mehr Spaß macht. Dass manches wie von selbst geht, während anderes über Jahre immer und immer wieder geübt werden muss. Dass der Weg das Ziel ist und es ein »fertig« nicht gibt. Und schließlich – dass das Bewusstsein, dass alle anderen auch gerade üben, sehr beruhigend ist.

Zur Autorin: Alexandra Handwerk ist freischaffende Anthroposophin. Sie hält Vorträge, Seminare und geführte Gespräche.