Arbeit und Familie? Ein Balanceakt

Christoph Meinecke

Ihr Ehemann ist ebenfalls voll berufstätig. Es mangelt an nichts, im Urlaub geht das Paar auf Reisen, lernt die Welt kennen. Sie teilen gemeinsame Interessen, jeder pflegt auch eigene Hobbys und Freundeskreise. Sie gelten als modernes und erfolgreiches Paar. Irgendwann stellt sich Unzufriedenheit ein, auch ein gewisser Druck der Großfamilie: Wann kommen denn die Kinder? Ach ja, die gehören doch dazu!

Louis kommt zur Welt. Die Schwangerschaft verläuft normal, alle möglichen Untersuchungen werden gemacht, um keine unliebsamen Überraschungen zu erleben. Ein Krippenplatz wird gebucht. Die Geburt ist schön, wenn auch anstrengend und lang, wie oft beim ersten Mal. Der Stillaufbau geht mühsam, es tut weh, das Kind schreit. Dabei ist doch geplant, dass diese Zeit eine Zeit der Harmonie und Erholung sein soll, eine gelingende Auszeit sozusagen. Statt Erholung nun also Stress. Es klappt dann allmählich besser. Der Schlafmangel nimmt zu, die neuen Eltern sind erstaunt darüber, was sie alles aushalten. Der Vater hatte seine Arbeit nur für drei Wochen Urlaub unterbrochen. Nach sechs Monaten dann stillt die Mutter größten Teils ab, das Kind kommt in eine Krippe, zunächst vier, dann sechs, schließlich neun Stunden. Die Mutter freut sich wieder auf die Berufstätigkeit. Sie wollte rasch wieder voll arbeiten. Familie und Beruf – warum sollte sich das widersprechen?

Also bleibt Louis ganztags in der Krippe. Und wenn die Mutter mal frei hat, nutzt sie die Zeit für Erledigungen, Hobby und Freundschaften. In der Krippe ist Louis ruhig, anspruchslos, »pflegeleicht«. Er schläft die meiste Zeit.

Zu Hause das Gegenteil. Nichts scheint ihm recht zu sein. Beim Füttern überstreckt er sich, wendet den Kopf ab. Beim Wickeln brüllt er, abends muss er auf dem Arm oft über Stunden herumgetragen werden, bis er vor Erschöpfung in den Schlaf sinkt. Heimlich wird er dann abgelegt, weil er sonst gleich wieder losschreit. Noch mit 14 Monaten dauert die erste Schlafphase knappe 90 Minuten. Dann folgt Stillen an der Brust, Einnicken von Mutter und Kind, nach 90 Minuten das gleiche Spiel, so die ganze Nacht.

Morgens Hektik! Der Wecker klingelt für alle zu früh. Gerade ist man erst in den Tiefschlaf gesunken. Die Fahrt im Berufsverkehr zur Krippe wird zur Tortur, meist schreit Louis auf der Fahrt, die knapp 20 Minuten dauert. In der Krippe wird er der liebevollen Erzieherin übergeben. Dabei schreit er, wie jeden Tag, das hat sich nicht geändert, war auch bei der Eingewöhnung schon so. Er klammert, er überstreckt sich, er würgt. Die Erzieherin versucht liebevoll, aber bestimmt, der Mutter klar zu machen, dass das Kind von ihr ein eindeutiges Signal des Abschiedes benötige. So geht es bis zum 18. Monat.

Wiederholte Vorstellungen bei Kinderärzten wegen Verdachts auf Kopfgelenkblockaden, Blähungen, Allergien –

irgend einen Grund muss es doch geben für Louis’ Unruhe. Aber nichts, kerngesund, nur: gestresst, unglücklich. Der Vater hatte sich schon seit längerem aus dem gemeinsamen Zimmer verabschiedet – um zu überleben, wie er sagt. Und die Mutter? Zufrieden im Beruf, erfolgreich, beliebt, bewundert für ihre Kraft, Kind und Beruf zu meistern, und – unglücklich, gestresst, verzweifelt.

»Was wünschen Sie sich wirklich?«, fragt der Kinderarzt: »Dass Louis ausgeglichener und zufriedener ist, dass man endlich eine Therapie für ihn findet, die ihm auch hilft …« – »Was wünschen Sie sich wirklich?«

Ein großer erschrockener Blick der Mutter, ihr stockt der Atem, dann schießen Tränen in die Augen, sie kann es nicht fassen, sie hat es selbst nicht gewusst. Nun platzt es heraus, schrankenlos, hemmungslos! Einfach nur leben, einfach nur Mutter sein. Da kommen selbst dem Arzt die Tränen, während Louis eingeschlafen ist auf dem Arm der Mutter. Sie ist eine Frau der Tat. Nun fasst sie einen Entschluss und beantragt noch am gleichen Tag Erziehungsurlaub.

Zwei Monate später kommen Louis und seine Mutter wieder in die Praxis. Ein verwandeltes Kind, eine verwandelte Mutter. Die Überforderungssymptome sind verschwunden. Beide wirken glücklich und zufrieden. Ein extremes Beispiel? Vielleicht. Aber doch wahr und im Praxisalltag ziemlich häufig!

Familie bedeutet Beziehung

Aus ärztlicher Sicht kann man mit großer Sicherheit sagen, dass ein Kleinkind unter drei, vier Jahren keine pädagogische Institution benötigt, sondern lediglich eine familiäre Lebensumgebung mit regelmäßigem Kontakt zur primären Bindungsperson. Diese ist zunächst meist die leibliche Mutter, wir Väter kommen als zweite dran – wenn wir dann noch verfügbar sind für das Kind – so gegen Ende des ersten, Anfang des zweiten Lebensjahres. Geschwister und Großeltern werden parallel und sukzessive hinzuerobert. Erst im vierten Lebensjahr etwa öffnet sich das Kind außerfamiliären Beziehungen. Gesundes Bindungsverhalten entsteht, wenn das Kind bei den primären Bindungspersonen, also in der Familie, Schutz und Sicherheit erfährt, wenn es einen Lebensraum vorfindet, der ihm seine Bedürfnisse erfüllen kann.

Hier zeigt sich ein wesentliches Grundprinzip, das auch in späteren Kindesaltern helfen kann, die richtige Arbeits-Familie-Balance zu finden: nicht das Kind hat die Bedürfnisse der Erwachsenen oder gar der pädagogischen Institutionen zu erfüllen, sondern umgekehrt. Wird dieser natürlich gegebene Generationenvertrag, der eine Facette des sogenannten pädagogischen Gesetzes darstellt, eingehalten, dann wirkt dies nachhaltig positiv auf die körperliche und seelische Gesundheit des Menschen im späteren Leben. Wer sichere Bindung in der Familie erlebt, geht gesünder und zufriedener durchs Leben.

Fachliche Distanz ist nicht gefragt

Andererseits sind die Kinder in der Regel großzügig und stets anpassungsbereit, wenn es sich aus der Lebens(kräfte)-situation der Familie heraus als notwendig erweist. Hierfür benötigen sie klare Signale und die sichere Haltung der Erwachsenen gegenüber dieser Notwendigkeit. Denn das Kind gedeiht aus den Lebenskräften der Familie heraus, es schwingt und webt in diesen mit und hat eine feine Wahrnehmung dafür, wie es um die familiären Lebenskräfte steht. Mangelzustände drückt es durch Unwohlsein aus.

Wenn nun also eine Fremdbetreuung in der frühen Kindheit nötig ist, weil sonst die Lebensexistenz der Familie bedroht wäre? Nicht alle Familien haben die Möglichkeit, wie Frau Seifert, eine Zeitlang auf Berufstätigkeit zu verzichten. Was also dann?

Hier zeigt uns die Erfahrung, dass frühe Fremdbetreuung umso besser gelingt, je kleiner die Gruppe ist und je familien­zugehöriger sie vom Kind erlebt wird. Dies kann in der Regel von qualifizierten Tagesmüttern leichter realisiert werden, als von Institutionen. Denn entscheidend ist, dass die Betreuungsperson der Familie freundschaftlich verbunden ist. Dies drückt sich durch Verweilen der Eltern beim Bringen und Abholen, durch gemeinsames Essen, Feiern oder zweckfreies Beisammensein aus. Fachliche Distanz ist hier also gerade nicht gefragt, sondern Beziehung.

Krippengruppen an pädagogischen Institutionen haben es oft schwerer, diese Qualität aufzubringen, was die kindliche Entwicklung nachhaltig bedrohen kann. Fremdbetreuungszeiten sollten nur so lange dauern, wie es für die Lebensbedürfnisse des Familienorganismus unbedingt notwendig ist. Wenn beide Eltern nur an drei Tagen gleichzeitig arbeiten müssen, dann sollte das Kind auch nur an diesen Tagen fremd betreut werden. Wenn die Betreuung nur bis 12 Uhr nötig ist, dann sollte sie auch nicht länger dauern.

Wichtig ist also, dass die reale Situation den Familienbedürfnissen stets angepasst werden kann. So wirkt Fremdbetreuung weniger schädlich, die Familienzufriedenheit ist deutlich höher und die Arbeit-Familie-Balance bleibt gesünder.

Nicht vor den Kindern klagen

Die Familie kann der Arbeit die Balance halten, wenn sie Beziehung, Zusammengehörigkeitsgefühl, körperliche Nähe, sichere Bindung, Schutz, Freiraum und Entspannung geben kann. Dabei hilft es wesentlich, wenn wir als Eltern unsere Paarbeziehung pflegen, unabhängig von allem anderen. Denn die Paarbeziehung der Eltern stellt die Basis, das Fundament der Familie dar. Ihre Stabilität wirkt auf die Gesundheit der ganzen Familie und jedes einzelnen Mitgliedes nachweislich präventiv.

Ähnliches gilt für das spätere Kindergartenalter. Zwar nimmt der Kindergarten im Laufe der vorschulischen Kindheit zunehmend den Charakter einer Lernstätte an, zu der das Kind idealerweise als seinem individuellen Lern-Ort eine immer innigere Beziehung aufbaut. Aber auch hier gilt: Das Wohl des Kindes steht im Vordergrund.

Wie es der Familie geht und was sie braucht, ist also wichtiger als die Interessen der Betreuungsinstitution. Eine Hilfe können Pausentage sein, die Kinder meist lieben und die wunderbar geeignet sind, innerfamiliäre Bindungen zu stärken. Andererseits ist es für die Kinder auch wichtig, zu spüren, dass sie sich mit ganzem Wesen dem Kindergarten hingeben können, sich also nicht um die Eltern sorgen müssen, solange sie von diesen getrennt sind. Auch hier gilt: Die Familie ist gesünder, wenn die Kinder vertrauen können, dass wir Eltern uns um unsere eigenen Belange kümmern, dass wir gut für uns selber sorgen, für unsere eigene Lebenszufriedenheit und Gesundheit.

Das hieße zum Beispiel, möglichst nicht vor Kindern über die Arbeit zu klagen, kein schlechtes Gewissen mit sich herum zu tragen oder gar davon den Kindern zu erzählen. Dies sind Erwachsenen-Themen, die Eltern untereinander partnerschaftlich und einfühlsam miteinander besprechen, und eben nicht vor den Kindern, die davon beunruhigt werden und nicht selten selber Schuldgefühle entwickeln.

Wichtig erscheint auch, dass wir von den Kindern keine Rücksicht auf die Berufstätigkeit verlangen. Wir lernen im Familiensystem Rücksicht zu nehmen, jedem gegenüber. Jedoch nicht einer abstrakten Anforderung gegenüber. Auch wir als Eltern dürfen unsere Bedürfnisse ausdrücken.

Dies geschieht am verträglichsten als Ich-Botschaft: »Ich möchte mich jetzt hinlegen, denn ich brauche etwas Ruhe.« Dies wird ein Kind lernen zu respektieren. – »Lass mich doch mal in Ruhe. Ich muss mich jetzt ausruhen von der schweren Arbeit. Ich bin so erschöpft. Da musst Du drauf Rücksicht nehmen. Wenn Du mir keine Erholung lässt, werde ich krank und kann mich gar nicht mehr um Dich kümmern.« Hier wird sich das Kind belastet fühlen mit der Verantwortung für das Wohl des Elternteils. Es drohen Schuldgefühle und Angst.

Im Schulalter besteht die Gefahr, dass die Last pflichtbezogener Tätigkeiten für den Familienalltag dadurch zunimmt, dass die Eltern auch den schulischen Werdegang ihrer Kinder überwachen und zum Teil mitgestalten wollen – oder sie glauben, dies auf Grund von gesellschaftlichem Druck tun zu müssen.

Wenn wir schulische Pflichten als Arbeit ansehen, dann geht es auch hier darum, die richtige Arbeit-Familie-Balance zu finden. Das heißt, es ist wichtig, Zeiten und Räume zu schaffen, die frei von Leistungsdruck sind und in denen sich die Freude am Leben und am Zusammensein ausdrücken kann. Notfalls kann die schulische Förderung auch ganz nach außerhalb verlagert werden. Als wunderbar für ein positives Lebensgefühl zuhause wird oft erlebt, wenn unter der Woche das Gros der sogenannten Hausaufgaben – die besser Eigenaufgaben heißen sollten – bereits in Schule oder Hort erledigt werden kann.

Arbeitgeber müssen Rücksicht nehmen

Was Familie nach wie vor mehr braucht, ist Verständnis bei den Arbeitgebern. 62 Prozent der Eltern in Deutschland beklagen, dass bei ihrer Arbeitsstelle Beruf und Familie nur schwer zu vereinbaren sind (pronovaBKK: Junge Familie 2015, September 2015). Flexible Arbeitszeiten, Jobsharing, Teilzeitarbeit, lebensphasenorientiertes Arbeiten mit Langzeitsarbeitskonten, Home-office, Betriebskindergärten, Kinderbetreuung in den Ferien und finanzielle Zuschüsse für Kinderbetreuung stehen auf der Wunschliste vieler Eltern. Aktuelle Studien zeigen, dass hier noch erhebliches Potenzial und Nachholbedarf besteht (vgl. A.T. Kearney-Familienstudie: Vereinbarkeit wagen, Düsseldorf 2015).

Dabei erscheint vor allem die Grundeinstellung der Vorgesetzten wichtig. Als ich vor 26 Jahren an einer bekannten anthroposophischen Klinik zu arbeiten begann und unsere erste Tochter zur Welt kam, wurde wie selbstverständlich vorausgesetzt, dass die Frauen den Ärzten »den Rücken freihalten«. Pünktlicher Dienstschluss zur Kinderbetreuung erzeugte Naserümpfen. Unsere Frauen gingen auf die Barrikaden und schrieben an den Leitungskreis.

Heute sind die Rollen in den Familien nicht mehr so streng verteilt. Zwar bleibt der Mann in den meisten Fällen der Hauptverdiener und die Frau bewältigt den größten Anteil der unbezahlten häuslichen Arbeit. Jedoch ist die Last oft besser verteilt, Arbeits- und Familien-, sowie häusliche Aufgaben werden von vielen Familien tendenziell als gleichwertig angesehen.

Somit hält eigentlich jeder jedem den Rücken frei und Selbstverwirklichung wird nicht mehr nur in der Arbeit gesucht, sondern von beiden Geschlechtern in einer gesunden Verbindung von Arbeit und Familie. Dazu passt, dass die Geburtenrate entgegen der Erwartung wieder steigt (Quelle: Statistisches Bundesamt, Dezember 2015). Auch der Kinderwunsch nimmt zu. Dabei verschiebt sich der Zeitpunkt aber weiter nach hinten, oft auf jenseits des 30. Lebensjahres.

Insgesamt geben auch nur 41 Prozent an, dass Kinder für sie ein sehr wichtiger Aspekt im Leben seien. Eine harmonische Partnerschaft mit 73 Prozent und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit mit 56 Prozent rangieren davor. Wohlstand und Karriere liegen jedoch weit abgeschlagen auf den hinteren Rängen (Forsainstitut im Auftrag von »Eltern«: Ansprüche ans Elternsein, Januar 2016). Eigentlich bietet sich also ein positives Bild.

Gesellschaftlich nimmt die Wertschätzung von Familie zu. Dabei steigt auch die Akzeptanz alternativer Familienformen wie Patchwork oder gleichgeschlechtlicher Elternschaft.

Familie lohnt sich

Die derzeitige Belastung von Eltern liegt mit durchschnittlich zusätzlichen zehn Arbeitsstunden pro Person und Woche gegenüber Kinderlosen erheblich höher. Aber Befragungen von Familien in meiner Praxis und im Familien- und Freundeskreis bestätigen die allgemeine Erfahrung: kaum einer bereut die eigene Familiengründung.

Ja, man ist in der Regel erstaunt darüber, was man als Eltern alles aushält, wenn man Kinder bekommt und großzieht – und welches Erlebnis- und Entwicklungspotenzial für einen selbst darin liegt.

Zum Autor: Dr. Christoph Meinecke, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Psychotherapie, anthroposophische Medizin (GAÄD); tätig in freier Praxis und in der Neugeborenenversorgung am Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin, Vater von 5 Kindern, Mitbegründer und Mit-Geschäftsführer des Familienforum Havelhöhe, Mitglied im geschäftsführenden Vorstand des Emmi-Pikler-Haus e.V.