Alles andere als Kinderkram. Was Spielen in der Schule für das Lernen bedeutet

Irene Jung

Morgens um halb neun, draußen auf dem Schulhof. Der Klassenlehrer der 4. Klasse, Knut Krödel, sieht die Jungen seiner Klasse in dem Gartenstück vor dem Seitentrakt des Schulgebäudes stehen. Zwei Gruppen bewerfen sich mit Rindenmulch, der dort ausgestreut ist. Dabei geht auch viel daneben, das angrenzende Pflaster ist schon vom Mulch übersät. Sofort eilt der Lehrer auf die Jungen zu. Aber bevor er mit seinen Ermahnungen beginnen kann, tritt ihm einer der Jungen entgegen: »Das hat alles seine Ordnung. Wir haben Regeln aufgestellt. Wir werden hinterher auch alles wieder auffegen.« Und tatsächlich, eine halbe Stunde später ist der Rindenmulch vom Pflaster verschwunden und wieder sauber auf dem Gartenstück verteilt.

Drei Tage hintereinander spielen die Kinder dieses Spiel, an drei Tagen räumen sie hinterher alles wieder auf.

Einige Wochen später, gleiche Zeit, wieder draußen, in einer verlassenen Ecke hinter der Turnhalle. Die Kinder der 4. Klasse wollen ein Klettergerüst bauen. Zu Beginn heben sie die Erde an vier Stellen einen Meter tief aus. Die ersten dreißig Zentimeter gehen noch leicht, der Rest ist Schwerstarbeit. Danach werden die Pfähle einzementiert. Dann, urplötzlich, haben sie keine Lust mehr. Die vier Pfähle genügen ihnen. Der Klassenlehrer ermuntert sie zum Weitermachen, ohne Erfolg. Schon laufen sie weg, in eine andere Ecke des Schulhofs.

Sollten die Kinder um diese Zeit nicht längst im Klassenzimmer sein? Was hat das Spielen im Rindenmulch oder der Bau eines Klettergerüsts mit Schule zu tun? 

Ob das noch Schule ist? 

»Und ob das Schule ist«, sagt der Klassenlehrer Knut Krödel. Ein ganzes Jahr lang führte er mit den Kindern seiner vierten Klasse das Projekt »Spielen vor dem Hauptunterricht« durch. Jeden Morgen um kurz nach acht ging es nach dem Einfinden in der Klasse, nach der gemeinsamen Begrüßung und dem Morgenspruch nach draußen.

Hier durften die Kinder auf dem weiträumigen, idyllisch angelegten Schulhof eine ganze Zeitstunde lang nach Herzenslust spielen, bei Wind und Wetter, ohne jedwede Anleitung oder Vorschriften ihrer Lehrer. Der war zwar immer zugegen, war Ansprechpartner, wenn die Kinder Hilfe benötigten, spielte auch gelegentlich mit, wenn die Kinder ihn darum baten, hielt sich ansonsten aber zurück und guckte zu. Das alles mit dem Einverständnis der Eltern. Wie kam es dazu?

»Aus langer Beobachtung hatte ich wahrgenommen, dass um das neunte Lebensjahr der Lernwille der Kinder einbricht und sie vermehrt Probleme mit dem Lernen bekommen. Oft hörte ich den Satz: ›Schule macht mir keinen Spaß mehr.‹ Auch Eltern berichteten mir, dass ihre Kinder schon morgens beim Aufstehen über den Gang zur Schule stöhnten. »Wie kann das sein?«, dachte ich mir. »Gerade das Gegenteil wollen wir doch erreichen!«

Andere Überlegungen schlossen sich an. Was bedeutet Lernen? Gerade die Waldorfschulen mit ihrem ganzheitlichen Ansatz haben das Lernen noch nie als bloße Ansammlung von Wissen verstanden oder als Produkt der sichtbaren Arbeit der Schüler. Das beweisen die vielen musischen Unterrichte, das beweisen auch die anderen Unternehmungen des sozialen Miteinanders: die Monatsfeiern, die Ausstellungen, die gemeinsam begangenen Jahresfeste. Sie alle dienen nicht nur der Gemeinschaftsbildung und dem Einblick in die aktuellen Unterrichte, sondern schulen auch das Wahrnehmungsvermögen des Schülers, seine schöpferische Phantasie, die Freude am Erfinden. Damit fördern sie, oft auf spielerische Weise, seine gesamte Persönlichkeit. Doch wird natürlich auch an Waldorfschulen das Spielen in seiner ursprünglichen Form vom Kanon der Unterrichtsfächer abgesetzt. Spielen bleibt somit etwas, dem das Kind sich erst dann hingeben darf, wenn es seine übrigen Pflichten – Schule und Hausaufgaben, häufig auch noch privater Musik- oder Sportunterricht und Mithilfe im Haushalt – erledigt hat.

Oft allerdings nicht einmal dann. Seitdem der Fernseher, Computer und technische Spiele Einzug in die Kinderzimmer gehalten haben, gerät  das Spielen zunehmend in den Hintergrund. Die möglichen Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung, aber auch für den Erwerb notwendiger schulischer Fähigkeiten der Kinder sind bekannt. Immer größer wird die Zahl der Schüler, die nicht in der Lage sind, sich im Unterricht länger als ein paar Minuten auf eine Arbeit zu konzentrieren, die nicht still für sich allein arbeiten, die eine begonnene Arbeit nicht oder nur unter größten Mühen zu Ende führen können. Diesen Entwicklungen etwas entgegen zu setzen war das Ziel der »Spielstunde« an der Rudolf-Steiner-Schule Hamburg-Bergstedt. Klassenlehrer Knut Krödel wehrte sich gegen die übliche Trennung zwischen Spielen und Unterricht. 

Kinder lernen beim Spielen

»Wann lernen die Kinder? Die Kinder lernen beim Spielen! Zuerst lernen sie es an den äußeren Dingen der Welt. Sie  müssen erfahren, dass sie die Dinge, von denen sie umgeben sind, durch ihr Tun verändern können. Sie können Einfluss nehmen auf die Welt. Oft haben die Kinder andere Vorstellungen von der Veränderung, die sie bewirken möchten, und lernen erst in der Beschäftigung die Sache richtig kennen.

Und in jedem Spiel gibt es Regeln, die erfunden werden, an denen sich die Kinder ausprobieren, indem sie auf die Reaktionen der Umwelt hören. Dabei lernen sie enorm viel. Ich habe beobachtet, dass Kinder sich beim gemeinschaftlichen Spiel immer Regeln geben. Diese werden sofort angewendet, wenn es eine Übertretung gibt. Kinder lernen dadurch fair zu sein. Wer immer der Anführer sein möchte, wird bald bemerken, dass die Mitspieler sich von ihm abwenden. Also müssen Kompromisse her, damit das Spiel weitergehen kann. Es ist faszinierend, Kindern dabei zuzuschauen. So lernen sie Sozialkompetenz! Dagegen lernt kein Kind Sozialkompetenz, wenn der Lehrer ihm sagt, wie es sich verhalten soll.« 

Die Lernfreude wecken 

Die Lernfreude der Kinder neu zu beleben und zu befruchten war das große Anliegen, das Knut Krödel mit seinem Projekt verfolgte. Ein weiteres Anliegen lag darin, Antwort zu erhalten auf die spannende Frage, welche Auswirkungen das Spielen auf den direkt an die Spielstunde anschließenden, eineinhalbstündigen Hauptunterricht haben würde. Bleibt das Vertrauen der Kinder in ihre eigenen Fähigkeiten oder ihre Eigeninitiative erhalten? Werden sie erfinderischer, phantasievoller, experimentierfreudiger? Wie entwickelt sich ihr Umgang miteinander? Hierzu sagt der Klassenlehrer: »Alle kamen ausgelassen und ausgeglichen in den Unterricht, arbeiteten sehr freudig mit und hatten nie Schwierigkeiten in den Unterricht einzusteigen und ihm zu folgen. Dabei leisteten sie viel mehr, als ich in den vergangenen zwei Durchläufen in der vierten Jahrgangsstufe erlebt hatte. So erlernten sie zum Beispiel das Bruchrechnen in kurzer Zeit sehr intensiv und sicher. Im Schreiben von Diktaten stellte ich erhebliche Unterschiede zu früheren vierten Klassen fest. Auch begannen sie vermehrt sich gegenseitig zu helfen, was ich ebenfalls auf das Spielen zurückführe.« 

Die Kinder fangen von sich aus an zu lernen 

In der 5. Klasse, im Schuljahr 2009/10, veränderte sich die Spielstunde. Die Vorgabe, draußen zu spielen, wurde in eine Stunde »zur freien Verfügung« umgeändert. Damit sollte dem vorpubertären Alter der Kinder Rechnung getragen werden. Zudem sollte erforscht werden, in welche Richtung die Stunde sich unter den neuen Rahmenbedingungen entwickeln würde. Es zeigte sich, dass die Kinder gelernt hatten, sich ihre Zeit frei einzuteilen. Manchmal gingen sie hinaus zum Spielen, dann wieder spielten sie in der Klasse. Aber sie spielten nicht mehr ausschließlich.

An manchen Tagen arbeiteten sie wie selbstverständlich an ihrem Platz im Heft oder fragten sich gegenseitig Vokabeln ab, diktierten sich Diktate oder übten für ein Referat. Hin und wieder wurde der Klassenlehrer um Hilfe gebeten, zum Beispiel, wenn ein Kind eine neue Lektion noch nicht verstanden hatte. Diese Selbstständigkeit konnte der Lehrer auch im nachfolgenden Hauptunterricht beobachten: »Langsam laufen die Kinder zu großer Form auf und es sieht so aus, als ob die Spielzeit Früchte trägt. Das, was sie dort gelernt haben, scheint sich auf andere Unterrichte auszuwirken. Bei mir in Französisch lernen die Kinder sehr eifrig und haben auch Lust dazu. Im Hauptunterricht bemerke ich jetzt gerade während meiner Ägyptenepoche, dass sie bei den Referaten ungeheuer viel Lust und Entdeckerkraft zeigen. Fast jeden Tag erleben wir, dass ein Kind mit einer neuen kreativen Idee aufwartet, um alles interessant zu machen. Angefangen hatte das Ganze mit dem Vortrag von K., die über den Pyramidenbau gesprochen hat. Mit einer selbst gebauten Pyramide kam sie in die Schule und machte hinterher sogar noch ein Quiz mit den Schülern, um zu prüfen, ob alle gut aufgepasst haben.

Heute kamen E. und P. und sprachen über Ramses. Sie hatten schöne große Bilder und sogar Fotografien dabei. Als Clou hatten sie ein Kind eingewickelt, um daran zu zeigen, was dem Ausgräber passierte, als er die Mumie auswickelte. T. hatte sogar ein kleines Schiff aus Papyrus gebaut. Den Vogel abgeschossen hatte J., der über den Streitwagen sprach und eine große Zeichnung an der Tafel präsentierte, die allgemein mit einem großem ›Ah‹ begutachtet wurde. «

Und was sagten die Schüler? In einer schriftlichen Befragung am Ende des 5. Schuljahres, an der 38 Kinder teilnahmen, äußerten 24 Kinder, sie würden seitdem viel lieber in die Schule kommen. 19 Kinder gaben an, dass sie seit Beginn des Projekts viel besser lernen könnten. 23 Kinder sprachen sich dafür aus, die Spielstunde auch im kommenden Schuljahr beizubehalten. Und nur 12 Kinder schrieben, dass die Spielstunde nicht so wichtig sei.

Für den Klassenlehrer beginnt nun die spannende Aufgabe zu verfolgen, welche nachhaltigen Auswirkungen die vergangenen zwei Jahre auf das heutige Lernen der Kinder haben.