Buchstabentanzen kann einen klaren Kopf machen

Matthias Jeuken

Die Lehrer aller Fächer werden immer mal wieder gefragt, worin der Nutzen ihres Faches besteht. Bei Eurythmie als Unterrichtsfach ist es fast sicher, dass diese Frage kommt. Einfach zu antworten: »Damit ihr im späteren Leben gut Eurythmie machen könnt«, stellt nicht zufrieden – und wäre auch falsch. Das Gegenteil ist richtig: Die Eurythmie unterstützt die Kinder und Jugendlichen bei ihrer Entwicklung in der Schule. Sie hilft, Fähigkeiten und Kompetenzen zu entwickeln, ohne Selbstzweck zu sein. Das eurythmische Tun der Schüler verwandelt sich fortwährend, begleitet und fördert die individuellen und sozialen Entwicklungsschritte. Dieser »Verwandlungscharakter« macht die Eurythmie im Vergleich zu anderen schulischen Fächern schwerer verständlich und offenkundig auch nur schwer erklärbar.

Das geht jedenfalls aus den in der Erziehungskunst (Juni 2005) veröffentlichten Schüler­aussagen zum Eurythmieunterricht hervor: »Eurythmie ist das allseits bekannte Problemfach der Waldorfschulen«, sagen Schüler, die nicht wissen, warum Eurythmie unterrichtet wird. »Das liegt daran, dass viele Lehrer den Schülern nicht erklären können, wozu dieses Fach gut ist und für was sie es später einmal gebrauchen werden«, schreiben zwei Zehntklässler. Zwei Neuntklässlerinnen ergänzen: »Bei uns herrschte immer die Frage, welchen Sinn die Eurythmie eigentlich hat. Nun, uns wurden Antworten gegeben, die wir nicht verstanden«.

Vermutlich werden kaum noch Eurythmiekollegen den Gedankenaustausch über die Eurythmie ablehnen und den Schülern Gespräche und Erläuterungen verweigern. Die früher oftmals geäußerte Meinung: »Wenn die Schüler über die Eurythmie sprechen wollen, ist das ein Zeichen für schlechten Eurythmieunterricht«, halte ich für falsch. Wenn mein Unterricht die Schüler zu eigenständigem, selbstbewussten Mitmachen und Gestalten anregt, ist es doch gerade ein Qualitätsbeweis, wenn sie das Erlebte auch reflektieren und verstehen wollen, wie und warum die Eurythmie wirkt. Viele Schüleraussagen legen aber dennoch den Schluss nahe, dass die Lehrer Angst vor den Gesprächen haben oder Schwierigkeiten, die Eurythmie darzustellen. Unterschiedliche Lebensalter, unterschiedliche Antworten. Heute ist die Tendenz weit verbreitet, den Kindern alles und in jedem Alter erklären zu wollen. Das ist hier natürlich nicht gemeint.

Die Schüler der unteren Klassen akzeptieren meist einfache Erklärungen. Zum Beispiel dass man sich gut auf dem Skateboard in der Fußgängerzone oder im Verkehr bewegen kann, wenn man seinen Weg durch schwierige Eurythmieformen findet. Mit dem Beginn der Pubertät, zumeist im sechsten Schuljahr, wird die Qualität der Schülerfragen anders. In den Schülern entsteht die Fähigkeit, aber auch der Drang, sich der Welt stärker gedanklich gegenüberzustellen. Rudolf Steiners Aussagen zu diesem »Umschwung« klingen wie auf den Eurythmieunterricht gemünzt: »Gegen das 12. Lebensjahr, schon etwas früher, beginnt dann beim Kind erst die Fähigkeit, dasjenige, was vorher nur phantasiemäßig musikalisch, rhythmisch, taktmäßig erlebt sein will, in das bloß Gedankenmäßige überzuführen.«

Von diesem Alter an ist es also nur berechtigt, den Schülern die Eurythmie auch gedanklich nahe zu bringen. Geschieht das nicht, droht die innere Abwendung der Schüler vom Lehrer. Steiner warnte bereits die ersten Waldorflehrer davor, sich den Schülern im Pubertätsalter gegenüber »latente Blößen« zu geben, indem man ihre Fragen nicht beantwortet. In ihrem Buch zum Eurythmieunterricht der Mittelstufe erläutert Helga Daniel, »dass das, was sie [die Schüler] in der Eurythmie lernen, etwas mit dem Leben, dem Jetzt, den Mitmenschen oder der Welt zu tun hat!« Sie regt die Eurythmielehrer an, immer wieder im Verlauf der eurythmischen Arbeit kurze Gespräche einzuflechten, um mit den Schülern gemeinsam zu überlegen, »was an der jeweiligen Aufgabe eigentlich geübt und gelernt wird.« Einen weiteren wichtigen Rat für diese Situationen formuliert Helga Daniel: »Lassen Sie sich von den Fragen zur Eurythmie nicht überrumpeln, nicht zu einer sofortigen, dann vielleicht vorschnellen Antworten drängen. Manches Mal wird gefragt, um den Lehrer herauszufordern oder auch um ein wenig Unterrichtszeit verstreichen zu lassen. Es hat sich bewährt, die Frage zeitlich zu verschieben: Die Bitte: ›Fragt mich am Ende der Stunde noch einmal‹, gibt Raum und zeigt oft, wie ernst die Frage war: Wenn die Frage ein wirkliches Anliegen war, wird sie zum Ende der Stunde noch präsent sein und wiederholt werden.«

Schüler finden selber Antworten

Waldorfschüler müssen oft genug selbst Antworten geben und wollen zu Recht wissen, wie sie erklären können, was Eurythmie ist. Das war der Ausgang des Projektes, das Jürgen Frank in der Erziehungskunst (Februar 2011) beschrieben hat: Er bat seine Oberstufenschüler, einmal selbst in wenigen Sätzen zu formulieren, was man auf diese Frage antworten kann. Sein Fazit: Die Schüler fanden nicht nur beeindruckende Formulierungen, sondern gaben ihm als Lehrer in ihren Beschreibungen auch ein Spiegelbild seines Unterrichtes. Je mehr die Schüler zum Gespräch über die Eurythmie beitragen, umso besser. Dass sie aktiv beteiligt sind, wirkt sich positiv auf das Verstehen aus und veranschaulicht, wo die Schüler innerlich stehen, wie sie denken und empfinden.

Als Einstieg kann es sinnvoll sein, den Schülern ihre eigene Frage als eine Art Hausaufgabe zu geben. Man kann sie bitten, die Fragen »Wozu ist die Eurythmie gut?« oder »Was bewirkt es, Eurythmie zu machen?« selbst zu beantworten, so weit und so gut sie können. Gerne dürfen die Schüler auch andere »Experten« befragen: Was wissen oder meinen die Eltern, der Klassenlehrer? Vielleicht fragt ein Schüler sogar einen Eurythmiekollegen. Das angesetzte Gespräch über die Eurythmie wird nur stattfinden, wenn die Schüler die Hausaufgaben wirklich gemacht haben. In der Regel kommen die Schüler gut vorbereitet und gespannt in die Stunde, begierig zu erzählen, was sie überlegt oder herausgefunden haben. Man kann erstaunt sein, was die Schüler schon von sich aus äußern.

Einige Beispiele:

• Innere Ruhe, Entspannung, Körperbeherrschung, Selbstbewusstsein; sie soll Geist und Körper verbinden; Gefühl zum Raum; sie ist gut für die Zusammenarbeit mit Anderen und um sich ausdrücken zu lernen. (7. Klasse)

• Körpersprache; Rhythmusschulung; mit Eurythmie kann ich mich besser konzentrieren, sie verändert die Willensstärke. (9. Klasse)

• Buchstabentanz: Gestaltung von Worten und Gedanken; man wird auf Dinge aufmerksam, auf die man vorher gar nicht geachtet hat. Man kommt irgendwie zur Ruhe, auch unbewusst. Eurythmie kann einen klaren Kopf machen; sie hilft, das Eigene besser zu finden. (11. Klasse)

Aber auch die Lehrerin oder der Lehrer muss seinen Teil dazu beitragen und den Schülern erläutern, was man für sie vorbereitet hat. Denn sie wollen ja von ihrem Lehrer wissen, was er ihnen zu sagen hat – und auch, wie er zu seiner Sache Stellung nimmt. Kurze eurythmische Übungen können das Gespräch einleiten. Die Schüler machen bei dieser Gelegenheit zumeist aufmerksam und bewusst mit, weil sie ja wissen wollen, was es mit den Bewegungen denn nun eigentlich genau auf sich hat.

Eurythmie ergreift den ganzen Menschen

In den Gesprächen über die Wirksamkeit der Eurythmie hat es sich bewährt, verschiedene Aspekte des differenzierten menschlichen Wesens zu berücksichtigen. Für Waldorfschüler ist es nicht ungewöhnlich, nach leiblichen, seelischen und geistigen Aspekten zu differenzieren. Diese Form der Betrachtung ist menschengemäß und erschließt besser die verschiedenen Wirkebenen der Eurythmie. Im Folgenden sind einige Aspekte der Wirksamkeit der Eurythmie zusammengefasst.

Je nach dem, wie man mit den Schülern spricht, können verschiedene Nuancen betont werden. So, dass die Eurythmie den Leib ergreift, ihn geschickt macht und ihn zum Instrument bildet. Weiter differenziert sie die Wahrnehmungsfähigkeit der Sinne, vor allem in Bezug auf das Gleichgewicht, das Sehen und Hören. Dann wirkt sie ausgleichend, harmonisierend, vitalisierend und hilft, die eigene Mitte zu finden wie auch den anderen besser wahrzunehmen. Sie schult das Orientierungsvermögen und erweitert die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten. Eurythmie verbindet zudem Seelisches (Empfindungen und Gefühle) mit dem Körper. Sie verstärkt die Erlebnisfähigkeit für die Qualitäten von Sprache und Musik, aber auch für Bewegungen und den Mitmenschen. Und nicht zuletzt fördert sie Fähigkeiten, auf die andere Unterrichte aufbauen (Geometrie, Deutsch, Rechnen). Darüber hinaus gibt es natürlich eine große Zahl weiterer Qualitäten und Kompetenzen, die die Eurythmie vermittelt oder ent­wickeln helfen kann.

Die Eurythmie an das Welterleben der Jugendlichen anschließen

Das altersgemäße Gespräch über den Eurythmieunterricht birgt die Möglichkeit, die Eurythmie an das jugendliche Welterleben anzuschließen. Das Miteinander der Menschen ist ein wichtiges Thema, das leuchtet jedem Schüler ein. Dass die Eurythmie die Fähigkeit schult, sich im Verhältnis zu anderen zu bewegen, ist auch leicht verständlich. Im Großen nennt man das Sozialität oder Mitmenschlichkeit. Je nach Altersstufe kann man die Wichtigkeit dieses Themas ganz verschieden ansprechen: am Beispiel des Zusammenlebens in der Klassengemeinschaft, am Beispiel des Straßenverkehrs, mit Blick auf gesellschaftliche Gruppen oder gar Staaten. So kann es gelingen, die Eurythmie, das eigene künstlerische Üben und das Welterleben zusammenzu­schließen: In der Eurythmie üben wir Menschlichkeit.

Zum Autor: Matthias Jeuken ist Dozent für Eurythmie an der Freien Hochschule Stuttgart

Literatur: Heiner Barz, Dirk Randoll: Absolventen von Waldorfschulen, Wiesbaden 2007 | Helga Daniel: Übung macht den Meister, Stuttgart 2009 | Rudolf Steiner: Erziehungsfragen im Reifealter. Zur künstlerischen Gestaltung des Unterrichtes (GA 302a), Dornach 1993 | Ders.: Die gesunde Entwickelung des Menschenwesens (GA 303), Dornach 1987