Das Kreuz mit den Reimen. Lyriker zu Gast in einer Deutsch-Epoche

Andrea Vogelgesang

Lukas steht vor einer Gruppe von Mitschülern und trägt das Sonett »Scherzando« von Johann Heinrich Voss vor.

Scherzando

Aus Moor-
Gewimmel
Und Schimmel
Hervor

Dringt, Chor,
Dein Bimmel-
Getümmel
Ins Ohr.

O, höre
Mein kleines
Sonett.

Auf Ehre!
Klingt deines
So nett?

Die vierzehn Zeilen kann er auswendig, was in diesem Fall nicht gar so schwer ist, da kein Vers aus mehr als zwei Worten besteht. Und doch ist es kein leichtes Unterfangen – denn es gibt Resonanz von Experten. Im Rahmen der Deutsch-Epoche zum Thema »Das gesprochene Wort« sind die Lyriker Alexander Nitzberg und Sina Klein über eine ganze Woche lang zu Besuch in der 10. Klasse der Rudolf Steiner Schule Düsseldorf und versuchen, mit den Schülern eine angemessene Form des Vortrags zu erarbeiten. »Ein Gedicht fängt in uns selbst an«, sagt Nitzberg, »wie ein Haus mit dem Fundament beginnt.« Deshalb sei es wichtig, wie der Sprechende im Raum steht. Erst wenn er seine Position gefunden habe, blicke man ins Publikum. »Die eigene Haltung muss geerdet und entspannt sein und über die eigene Mittelachse die Konzentration gesammelt werden«, präzisiert Nitzberg. Der Schüler solle sich während des Vortragens nicht anlehnen, sondern sich selbst Stütze sein.

Lukas startet seinen zweiten Versuch. Nitzberg gibt weitere Hinweise: »Ein Gedicht entwickelt sich, man muss von unten anfangen, einen Spannungsbogen aufbauen. Stellt es Euch so vor: Ich bin hier und will nach da«.

Bei seinen Ausführungen ist er so bei der Sache, dass Worte und Inhalt der Poesie immer lebendiger werden. Für einen weiteren Versuch rät der 42-jährige studierte Germanist und Musiker dem Schüler, den Charakter des Gedichtes schon in den Titel mit hinein zu nehmen. »Scherzando« bedeutet auf Deutsch scherzen(d) und deutet an, dass es um eine Parodie auf ein Sonett geht, es nimmt sich sozusagen selbst auf die Schippe. »So kann man schon in das Aussprechen des Titels etwas Verschmitztes hineinlegen«, führt er aus.

Dem Schüler gelingt der Vortrag von Mal zu Mal besser, bis er seine Version auch für eine Tonaufnahme fehlerfrei sprechen kann. »Durch die Aufzeichnung können sich die Jugendlichen selbst korrigieren, wobei sie häufig die strengsten Kritiker des eigenen Werkes sind«, kommentiert der Deutschlehrer der 10. Klasse, Franz Glaw. »Am Ende erfüllt es sie aber mit Stolz, wenn das Ergebnis veröffentlicht werden kann.« Das gelte auch für diejenigen, die sich einen Gedichtvortrag alleine auf der Bühne nicht zutrauen würden.

Das Rezitieren von Gedichten oder Sprüchen ist für Waldorfschüler Alltag von der ersten Klasse an. In der Unterstufe wird im Chor auswendig gelernt. In der Oberstufe wird der Zugang zur Lyrik dann über das Erkennen von Gesetzmäßigkeiten und Wirkungsweisen ergänzt und führt in der Folge zu einem tieferen Verständnis. Sina Klein setzt sich mit einer Gruppe von Schülern mit der Frage auseinander, was Dichtung überhaupt ausmacht, und mit der Tatsache, dass ein Sonett weit mehr darstellt, als einen Vierzehn-Zeiler mit einem bestimmten Reimschema. Sie untersucht mit ihnen, welche Ideen, Antithesen, Widersprüche und Spannungen dahinter stehen, die sich am Ende auflösen.

Franz Glaw schätzt die langjährige Zusammenarbeit mit Sina Klein und Alexander Nitzberg sehr: »Vor allem sind die Aspekte, die professionelle Lyriker durch ihre Schaffenserfahrungen einbringen, eine ganz wesentliche Bereicherung zum betrachtenden und analysierenden Vorgehen.« Zudem sei es eine wertvolle Erfahrung, Menschen zu erleben, die ihrer Berufung kompromisslos nachgehen, auch wenn dabei keine finanziellen Reichtümer winken.

Das Projekt wurde vom Kulturamt der Stadt Düsseldorf gefördert. Andreas Ihrig-Groß, Schulvater und Toningenieur, war bei der Technik behilflich.

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