Die Basis ist Gerechtigkeit. Rechtskunde in der Waldorfschule

Reinald Eichholz

Elftklässler verfügen über eine Fülle von Informationen aus Nachrichten oder den sozialen Netzwerken, aber diese schwirren weitgehend unsortiert in den Köpfen herum und tragen eher zur Verwirrung als zur Klärung bei. Weit hinderlicher ist jedoch, dass ihre Vorstellungen über das Recht höchst einseitig sind: Recht sei Verurteilung, Strafe, Streit, Verwaltungseingriff, Freiheitseinschränkung – immer geht es um irgendwelche Regeln, die irgend jemand aufstellt, die gebrochen werden und deshalb den Staat auf den Plan rufen. Es herrscht die übliche Antipathie gegenüber allem, was Recht ist.

Auf das Rechtsverständnis kommt es an

Auf dieser schmalen Basis ist ein Rechtskundeunterricht, der mehr als rechtstechnisches Knowhow zum Umgang mit diesen Widrigkeiten vermittelt, kaum möglich. In der Unterrichtsvorbereitung muss man daher mit sich selbst ins Reine kommen, welches Rechtsverständnis man zugrunde legt, ob nur das übliche, an Artikeln und Paragraphen orientierte, oder ob auch vom »Recht, das mit uns geboren ist« (Goethe) die Rede sein soll. Hierzu lassen sich interessante menschenkundliche Beziehungen aufzeigen. Jeder Mensch findet eine Vierheit von Wesensgliedern in sich vor – den physischen Leib, die Organisation der Lebenskräfte, das Seelenleben und das Ich. Jede zwischenmenschliche Begegnung spielt sich auf diesen Stufen ab; sie gliedern das Beziehungsgefüge von Mensch zu Mensch. Wir stehen physisch nebeneinander, in allen sozialen Lebensbezügen spüren wir, dass wir wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Wir kennen das soziale oder antisoziale Wirken im Seelischen und erleben in der Wesensbegegnung den Anderen in seiner Menschenwürde.

Ganz entsprechend spricht Gustav Radbruch in seiner »Rechtsphilosophie« von einer untersten »positivistischen« Stufe des Rechts, die durch das (geschriebene) positive Recht der Gesetze, Verordnungen, Verwaltungsakte und Verträge bestimmt ist, auf der wir einander als Träger von Rechten und Pflichten gegenüberstehen. Alle diese »Gesetze« entfalten ihre Bedeutung für das Leben aber erst, wenn sie sich auf einer zweiten, höheren Stufe als lebendige Rechtskultur mit dem gesellschaftlichen Leben verbinden. Das gesetzte Recht, aber auch das persönlich und gesellschaftlich Gelebte, muss sich drittens vor der Wertordnung des Rechts, den ethischen Maßstäben für Recht und Unrecht, als »richtiges Recht« ausweisen, vor diesen bestehen können.

Was dies bedeutet, darüber entscheidet schließlich »in letzter Instanz« die Zentralidee allen Rechts, die Gerechtigkeit, die das Wesen des Rechts ausmacht. Erst durch diese Erweiterung des positivistischen Rechtsdenkens bemerkt man, was das Recht in tieferen Schichten mit dem Wesen des Menschen zu tun hat. Durch eine solche Betrachtung lässt sich in den Jugendlichen das Bewusstsein wecken, dass sie selbst bis in ihre persönlichen Beziehungen hinein »im Recht« leben und aktiv das Recht gestalten.

Appell an das Rechtsgefühl

Dieses Rechtsverständnis lässt sich nicht einfach vorführen. Eine kleine Schrift von Stéphane Hessel erleichtert den Einstieg. Unter dem Titel »Empört Euch!« ruft er gerade die nachwachsende Generation dazu auf, sich mit dem allgegenwärtigen weltweiten Unrecht nicht abzufinden. Zum Gesprächsgegenstand habe ich Bilder von flagrantem Unrecht gemacht, die unter die Haut gehen – das vor dem Napalmangriff fliehende weinende Mädchen, Folter in Abu Ghraib, das eingestürzte Fabrikgebäude in Bangladesh, waffenstarrende Kindersoldaten oder Bilder der nicht endenden Umweltkatastrophen.

Es bewährt sich, dem Gefühl der Empörung im Gespräch freien Lauf zu lassen, um dann allerdings herauszuarbeiten, dass alle offensichtlich von Subjektivität geprägten Bewertungen auf ihre Verlässlichkeit hin kritisch befragt werden müssen.

Forum externum – Forum internum

An dieser Stelle ist stets fruchtbar, dass ich mit den Jugendlichen in jeder Epoche eine Strafverhandlung beim Amtsgericht besuche, bei der die hohen Anforderungen an die Urteilsbildung erlebbar werden. Vorher beschäftigen wir uns mit strafrechtlichen Vorschriften, für manchen nicht gleich durchschaubar, doch für einige Schüler, die sonst nicht leicht zu erreichen sind, von erstaunlichem Reiz. Aus einem originalen Gesetzestext herauszulesen, wie sich Diebstahl, Unterschlagung und Betrug unterscheiden, ist für Fortgeschrittene! Das immerhin Prickelnde, das mit diesen Themen verbunden ist, sichert aber allgemeines Interesse. Sich im Rollenspiel die Akteure im Strafprozess zu vergegenwärtigen, ist dagegen eine für alle Temperamente spannende Sache. In der Verhandlung selbst ist die Begegnung mit der Staatsmacht beeindruckend. Das im Verhandlungsraum unter den Augen des Gerichts für alle selbstverständliche Wohlverhalten erlaubt die spitze Frage, ob das nicht im (schulischen) Alltag, auch wenn kein Ordnungsgeld droht, aus eigenen Kräften erreichbar sein könnte. Das Gespräch über das Erlebte bietet Raum für persönliche Einschätzungen, was keine Äußerung ausschließt. Das abwägende Vorgehen des Richters ist für alle beeindruckend – für die einen stimmungsmäßig erlebbar als Besonnenheit, für andere als Beobachtung, wie ein schrittweise geordnetes Verfahren zum Ergebnis führt. Wieder anderen geht es in erster Linie um die seelischen Regungen, die eine Straftat hervorruft oder die sich rühren, wenn Not und Scheitern einen Angeklagten verfolgt haben. Von besonderem Gewinn ist das Erlebnis, dass wir im selbstkritischen Umgang mit eigenem Verhalten die Rollen des Anklägers, des Angeklagten, des Verteidigers, der Zeugen und schließlich des Richters alle in uns selbst finden.

Existenzielle Grunderfahrungen

In diesem Ansatz steckt Grundsätzliches. Gerade angesichts der heutigen abstrakten Rechtsvorstellungen kommt es darauf an, rechtliche Zusammenhänge als existenzielle Erfahrung erlebbar zu machen: den Grundsatz der Vertragstreue durch die jedem zugängliche Erfahrung, dass man Versprochenes halten muss; die Regeln über Teilmündigkeiten und Volljährigkeit durch die kritische Selbstbefragung, was ich mir zutraue – und was nicht; oder die Schadensersatzregeln durch das Gefühl, dass man zur Wiedergutmachung verpflichtet ist. So verringert sich die Distanz zu den Fragen des Rechts. Zugleich erleichtert dieses Erleben einen »inklusiven« Zugang für alle und sichert gerade für die an intellektueller Auseinandersetzung Interessierten eine emotionale Fundierung, die das Gespräch nicht in theoretisierende Abstraktheit münden lässt. Solche Grunderfahrungen auch bei Themen wie Staatsaufbau, Gewaltenteilung, Gesetzgebungsverfahren, Zivilprozess oder Konventionen des Völkerrechts zu finden, ist allerdings eine schwierige Sache! Ein Anknüpfungspunkt ist jeweils, dass in anderen Unterrichten oder im Klassenspiel Fragen auftauchen, die die Zuordnung der rechtlichen Probleme zu anderen Themen im Umkreis von Recht und Unrecht – man denke nur an Schillers »Verbrecher aus verlorener Ehre« – erlauben, die im Erleben der Schülerinnen und Schüler bereits eine Rolle gespielt haben.

Gemeinsam und differenziert

Bei diesem Vorgehen entsteht ein neues Verhältnis zu den vielfältigen Regelungen des positiven Rechts: Sie haben den Sinn zu ordnen, was aus eigenen Kräften (noch) nicht geleistet werden kann. Die eigentliche Substanz des Rechts ist aber das aus eigenem Vermögen gestaltete Verhältnis von Mensch zu Mensch mit der Herausforderung, Gerechtigkeit und Menschenwürde zu verwirklichen. Das Interesse am Anderen, Rücksichtsnahme und Toleranz rücken auf diese Weise in den Vordergrund. Wie jeder Mensch haben dazu alle Schülerinnen und Schüler auf ihre Art einen Zugang.

Die Grundstimmung der Gerechtigkeit

Der Versuch, auf der Grundlage dieses Rechtsverständnisses Rechtskundeunterricht zu geben, hat als Ziel, die Jugend­lichen mit einem wichtigen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit vertraut und sie im Rechtsleben handlungsfähig zu machen. Doch genügen kann das nicht. Der Rückgriff auf das eigene Erleben soll daher die Erfahrung stützen, dass auf dem Gebiet des Rechts der Einzelne nicht nur fremd­bestimmt ist, sondern dass er mit den Mitteln des Rechts handeln kann. Letztlich muss es darum gehen, eine »Grundstimmung der Gerechtigkeit« zu fördern, die im persönlichen Dasein wie auch im gesellschaftlichen Zusammenleben zur Richtschnur für das eigene Handeln und das Engagement in der Gemeinschaft wird.

Abschlüsse und Leistungsbewertung

Je stärker das Gefühl wächst, dass Gerechtigkeit letztlich immer Einzelfallgerechtigkeit ist, die sich auf den einzelnen Menschen mit seinen besonderen Begabungen, Neigungen und Lebenswiderständen bezieht, desto krasser wird von den Jugendlichen die für die Abschlüsse maßgebende Leistungsbewertung als Problem empfunden.

Die gleichmachende Tendenz des Berechtigungswesens steht im Widerspruch zu der mit der heutigen Forderung der Inklusion notwendig verbundenen Aufgabe, jedem Kind oder Jugendlichen in seiner Art gerecht zu werden. Beseitigen lässt sich das Dilemma derzeit nicht. Durch eine »Kursvereinbarung« haben wir einen Kompromiss gesucht. Einvernehmlich haben wir uns vorab »Allgemeine Geschäftsbedingungen« gegeben: Gegen mein Versprechen, guten Unterricht zu erteilen, konnten die Jugendlichen auf einer Skala markieren, ob sie an den vereinbarten Themen Interesse haben – oder auch nicht; sie konnten ankreuzen, ob, woran im Einzelnen und mit welchem Ergebnis sie an der Epoche teilnehmen wollten. Und sie konnten ankreuzen, wenn sie einen Hinweis erhalten wollten, falls mir das individuell angestrebte Ergebnis angesichts der konkreten Teilnahme am Unterricht nicht erreichbar schien. Die Bewertungskriterien haben wir offen diskutiert. Am Ende des Kurses haben wir uns wechselseitig in der Urteilsbildung geübt; danach erschien die Note, die ich am Ende zu geben hatte, individuell einsehbar und angemessen.

Am praktischen Beispiel war zu erleben, dass Gerechtigkeit keine abstrakte Leerformel ist, sondern eine ständige Herausforderung, in Ansehung der Gegebenheiten des Daseins das Menschenmögliche zu tun und – sei es auch nur in kleinen Schritten – mehr Gerechtigkeit zu verwirklichen.

Zum Autor: Dr. jur. Reinald Eichholz, ehem. Richter, Verwaltungsjurist und Kinderbeauftragter der Landesregierung NRW. Er ist u.a. Mitglied des Arbeitskreises Inklusion des Bundes der Freien Waldorfschulen.

Literatur:

Franz Bischoff: Die Erziehung zur Gerechtigkeit, in: Anthroposophie, Vierteljahrsschrift zur anthroposophischen Arbeit in Deutschland, Nr. 245, 2008, S. 211 ff. | Reinald Eichholz: Der Mensch im Recht – das Recht im Menschen, Basel 2011 | Stéphane Hessel: Empört Euch, München 2011 | Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, Stuttgart 1973 | Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit, München 2010