Die Kunst der Variation

Jessica Gube

Eine kleine Tiergeschichte soll eingeführt werden, zunächst als Puppenspiel, später auch als von den Kindern gespielte Szene, mit mancherlei Dialog- und Wortschatzübungen. Ein kleines Gespräch wird auf Deutsch begonnen. – »Sagt mal, was frisst der Hund eigentlich am liebsten? Und der Hahn? Die Ente? Die Ziege? Das Pferd? Und die Katze?« Rege werden Vorschläge gesammelt, und die Lehrerin lenkt behutsam die Antworten so, dass sie den Grundstock für die neue Geschichte bilden: Der Hund mag Knochen, der Hahn Körner, die Ente Brot, die Ziege Klee, das Pferd Hafer und die Katze Milch. Nun kommt in einem Satz die Initial­zündung für die eigentliche Geschichte: »Ein kleines Kätzchen hatte sich einmal verlaufen …« – ab jetzt wird nur noch auf Französisch weitererzählt.

Das Puppenspiel als erste Erlebnisebene

Auf den Lehrertisch wird ein kleines Kätzchen gestellt. Die nach und nach auftauchenden Tiere werden der Handlung entsprechend bewegt und geführt, unterstützt durch Gestik und Mimik der Lehrerin: »Regardez, voilà le petit chat perdu: Miaou, miaou, j’ai faim!« – Un chien arrive. Ouaf, ouaf. Qu’est-ce que tu as, petit chat? – Miaou, miaou, j’ai faim. – Va chez la fermière, elle te donnera un os.« Am Tischrand erscheint die fegende Bäuerin, die von den Geschehnissen bei den Tieren gar nichts merkt. »Un os? J’aimerais du lait!« Nacheinander kommen nun alle vorher genannten Tiere, bieten freundlich ihr Lieblingsfutter an, immer in derselben Dialogstruktur, und wundern sich, dass das Kätzchen nur Milch mag. Schließlich erscheint die dicke, große Katze und macht den erlösenden Vorschlag, bei der Bäuerin nach Milch zu fragen. Beide gehen dorthin, und das Kätzchen bekommt endlich die Milch.

Gespannt haben die Kinder die Geschichte verfolgt. Aus spontanen Bemerkungen erkennt man sofort, dass viele von ihnen verstanden haben, worum es ging. Um wirklich alle anzuschließen, kann man die Geschichte eventuell kurz auf Deutsch nacherzählen lassen.

Variationen im Üben des Wortschatzes

In den nächsten Tagen wird das Puppenspiel – der Lehrer benutzt immer denselben Wortlaut – noch einige Male wiederholt. Die Magie der unteren Klassen ist, dass die Kinder schon am zweiten Tag anfangen mitzusprechen. Diese Nachahmungskräfte verschwinden später zu einem guten Teil und sind so unbefangen nur in diesem Alter verfügbar. Wird das nicht bald langweilig? Nein – denn hier tritt die Kunst der Variation ein, die ein belebendes Element für alles Rhythmische und Gewohnte ist: Zum Beispiel darf ein Kind das Kätzchen, andere Kinder die anderen Tiere führen. Oder wir lassen die einzelnen Tiere auch von einzelnen Kindern sprechen. Oder alle Tiere werden aufgestellt und benannt: »Qu’est-ce que c’est? Le chat?« Die Kinder lachen: »Non! C’est le chien!« – Wer weiß denn alle Tiere? – »Qui connaît tous les animaux?« – Oder man fragt, welches Tier als erstes aufgestellt werden soll: »Quel animal est-ce que je pose sur la table?« – »S’il vous plaît, le coq, Madame!« – Oder man fragt vor dem Aufstellen, wer Hafer frisst: »Quel animal mange de l’avoine? Le chat?« –»Non!« »La chèvre?« – »Non!« – »C’est le cheval!«

An einem nächsten Tag kann man weiterfragen: »Est-ce que tu aimes le lait?« Wahlweise antworten die Kinder: »Oui, moi, j’aime le lait« oder »Non, je n’aime pas le lait«. Durch die häufige Wiederholung ähnlicher Fragen verstehen irgendwann auch die langsameren Kinder. Die meist standardisierten Antworten machen möglich, dass die regeren Kinder sich schon früh melden und ihr Sätzchen antworten können, die stilleren Kinder aber auch zum Zuge kommen. Bei diesen Dialogübungen kommt jeder einmal an die Reihe.

Die Kinder nehmen wie selbstverständlich die wichtigsten Fragewörter auf und können in kurzen Sätzen bejahend oder verneinend antworten. Sie bilden grundlegende, einfache Formulierungen wie »ich mag« oder »ich esse« und integrieren den elementaren Wortschatz. So kann man das Thema weiterführen zu den Haustieren der Kinder, exotische Tiere dazunehmen, Waldtiere … die Möglichkeiten sind weitreichend. Schafft man es als Lehrer, spontane Anregungen der Kinder einzubeziehen, möglichst nach dem Prinzip: die Kinder erzählen etwas, und man greift, unmittelbar auf Französisch antwortend, das Thema auf, dann sind alle tief zufrieden.

Das szenische Spiel als Höhepunkt der Sprachepoche

Das Schönste aber ist das szenische Spiel. Jeden Tag schlüpfen einige Kinder in die Tierrollen und probieren vorn im frei geräumten Teil der Klasse Gesten und Sätze. Die auf den Plätzen verbleibende Kindergruppe übernimmt, chorisch sprechend, den Part des Erzählers. Wer vorn ist, ist also einzeln ge­fordert; wer am Platz ist, hat noch den Schutz der Gruppe.

Manche Kinder wollen jeden Tag einzeln spielen, manche brauchen lange, ehe sie sich einmal nach vorn wagen. Jeder neue Spieler bringt kleine neue Nuancen ein, so dass das Spiel variiert wird. Dann kommt die Frage: Wie verkleiden wir uns? Von zu Hause werden Kostüme mitgebracht, anprobiert, zusammengestellt … es wollen ja nicht nur die Tiere und die Bäuerin verkleidet sein, sondern alle Kinder, sind sie doch die Bewohner des Bauerndorfes, die uns die Geschichte erzählen.

Und schon naht die Monatsfeier! Erst in den letzten Tagen davor werden die Rollen endgültig festgelegt. Die meisten Kinder können inzwischen den Text der gesamten Geschichte auswendig und sagen ihn nachmittags als »Hausaufgabe« für sich nochmals auf. Zweimal proben wir im Saal auf der Bühne. Das ist unerlässlich für die Raumorientierung, gerade bei jüngeren Kindern.

Am Aufführungstag sind alle freudig erregt und stolz darauf, zeigen zu dürfen, was sie geübt haben und wie schön sie in ihrem Kostüm aussehen.

Nur sieben Minuten dauert die kleine Szene in der Monatsfeier. Vier Wochen hat sie uns immer im letzten Teil der Französischstunde beschäftigt. Langweilig ist es uns nicht geworden. Wir hatten viele Erlebnisse, brauchten kaum deutsche Übersetzungen und sind auf unserem Sprachlernweg ein schönes Stück vorangekommen.