Fremdsprachen lernen stiftet Frieden

Erhard Hofmann

Die Aufgabe von Bildung und Erziehung heute besteht vor allem darin, Kinder zielgerichtet auf die Prüfungen vorzubereiten – so die allgemeinen Debatten. Diese Zugänge zu bestimmten Lebenslaufbahnen bedeuten dagegen selten, dass Erziehung und Bildung auf das Leben selbst vorbereiten. Schule ist zunehmend zu einem scheinbar objektiven Selektionsapparat geworden, in dem das freie Erforschen der Welt und ihrer Zusammenhänge kaum mehr möglich ist. Gebundene Aufgabenformate, wie wir sie zum Beispiel von der Führerscheinprüfung kennen, sowie die Zentralisierung von Lernerfolgskontrollen haben dazu geführt, dass die Schülerinnen und Schüler häufig die zu erwartenden Ergebnisse kennen. Ihr oberstes Lernziel ist es, diese erwarteten Ergebnisse abrufbar zu machen, ohne damit notwendigerweise einen eigenen Lernprozess in Gang zu setzen. Wichtig ist, was in der Prüfung abgefragt wird. Für Eltern ist Bildung damit nicht selten reduziert auf die Frage: Wird mein Kind das angestrebte Prüfungsziel erreichen, und ist das, was die Schule macht, dafür relevant? Da auch die Bildungsziele der Universitäten zunehmend normiert werden, ist zu beobachten, dass sich diese universitären Lernziele schon weit unten in den Schullehrplänen, selbst denen der Primarstufe, wiederfinden. Dies gilt insbesondere für die Methoden des Lernens, was heute oft gleichgesetzt werden muss mit dem Lernen durch die neuen Medien, also Lernen am Computer.

Waldorfpädagogen erleben hier häufig einen Erklärungsdruck gegenüber Eltern, aber auch Kindern, die ihre Fertigkeiten mit denen ihrer Freunde an Regelschulen vergleichen. Auf der Website der US-Regierung werden diese Bildungsziele in ernüchternd klarer Weise beschrieben: »Eine Weltklasse-Bildung ist der einzige Faktor, der darüber entscheidet, ob unsere Kinder in den Wettbewerb um die besten Jobs treten können und ob Amerika darüber hinaus alle anderen Länder der Welt übertreffen kann.« Und weiter heißt es: »Präsident Obamas Programm fördert … den innovativen Gebrauch von Wissen, … was Amerika wiederum dazu verhilft, in der Zukunft der Gewinner zu sein, indem wir alle unsere Konkurrenten durch Bildung überragen« (Holdrege).

Bildung wird gleichgesetzt mit abrufbarem, intellektuellem Wissen, das vor allem dazu dient, sich gegenüber der als feindlich empfundenen Außenwelt zu behaupten.

Dazu passt das Phänomen der Pegida-Bewegung, das von der alten Kulturstadt Dresden ausgehend ganz Deutschland erfasst hat und in ähnlicher Weise überall im wohlhabenden, westlichen Teil Europas zu beobachten ist. Es demonstrieren Menschen aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft heraus gegen angebliche Überfremdungstendenzen, in diesem Fall gegen die unterstellte »Islamisierung des Abendlandes«. Tausende treffen sich jeden Montag in Dresden, einer Stadt mit 530.000 Einwohnern, in der es gerade einmal 250 Muslime gibt. Vermutlich ist der Anteil der Muslime an der Bevölkerung in ländlichen Gebieten Sachsens, also den Orten, aus denen viele der Demonstranten kommen, noch geringer.

Es ist also nicht die eigene Lebenserfahrung, die die Menschen auf die Straße treibt und fremdenfeindliche Parolen rufen lässt, sondern vielmehr eine diffuse Angst, wahrscheinlich vor einer unsicheren und unbekannten Zukunft mit Herausforderungen, denen sich diese Menschen nicht gewachsen fühlen. Und hier liegt der Schnittpunkt der beiden genannten Beispiele. Das große Amerika plagen offensichtlich die gleichen Sorgen wie den kleinen Mann auf den Straßen deutscher Großstädte. Keinesfalls sollen hiermit die Gefahren kleingeredet werden, die zurzeit überall auf der Welt, vor allem von islamistisch-fundamentalistischen Gruppierungen ausgehen.

Die Frage, die sich jedoch für uns hier in Deutschland stellt, ist, wie wir diesen komplexen Problemen und Herausforderungen der Welt begegnen können, so dass sie uns nicht überrollen und wir unser menschliches Antlitz nicht verlieren und in dumpfe Parolen abgleiten.

Wie können wir also Ängsten begegnen und zu Toleranz erziehen? Welche Rolle kann hier die Schule spielen? Kann dem Fremdsprachenunterricht dabei eine ganz besondere Bedeutung zugewiesen werden, da durch das Erlernen fremder Sprachen Kommunikation mit dem jeweils anders Denkenden und Fühlenden erst möglich wird? Eröffnet der Fremdsprachenunterricht an der Waldorfschule vielleicht sogar eine eigene, erweiterte Möglichkeit hierfür?

Auf das Emotionale kommt es an

Vieles dreht sich heute in der allgemeinen Bildungsdiskussion um den Begriff des Kompetenzerwerbs. In den Kernlehrplänen, wie sie zum Beispiel vom Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen entwickelt worden sind, werden diese Kompetenzen klar formuliert. Es geht um kommunikative und interkulturelle Kompetenzen, die Verfügbarkeit von sprachlichen Mitteln und sprachlicher Korrektheit sowie methodische Kompetenzen. Fremdsprachenlehrer an einer Waldorfschule tun gut daran, sicherzustellen, dass sie ebenfalls die dort formulierten Lernziele in methodisch sinnvoller Weise in ihr eigenes Curriculum überführen.

Es gibt jedoch einen Aspekt, der über diese Lernziele hinausgeht und den Waldorfansatz signifikant von dem Curriculum der Regelschulen unterscheidet. Dies betrifft all die Zwischentöne, das »Emotionale«, das nur schwer Greifbare einer Sprache, das aber nach Meinung von Sprachforschern bis zu 90 Prozent der sprachlichen Aussage ausmacht und das Gelingen einer echten Kommunikation erst sicher stellt (Lutzker). Diese Ebene des Spracherwerbs berührt das, was Rudolf Steiner meinte, als er davon sprach, dass es wichtig sei, den Genius einer Sprache zu erfassen. Über diese Art, eine Sprache zu lernen, kann das Bildhafte, das Wesenhafte einer anderen Sprache vermittelt werden, so dass letztendlich auch die andere Kultur erlebbar wird und damit Sprachunterricht eine »unmittelbare Erziehung zum Frieden« bedeutet (Kiersch). Methodisch geschieht dies in der Regel durch Rezitation von Gedichten, Sprüchen und Zungenbrechern, das Lesen von Originaltexten schon in unteren Klassen und das szenische Spiel, im Idealfall ein englischsprachiges Theaterprojekt in Klasse 10 oder 11.

Shakespeare und Gospels

So werden an der Rudolf Steiner Schule Schloss Hamborn mit der zehnten Klasse seit über 20 Jahren Shakespeare-Stücke auf Englisch einstudiert und nicht nur an der eigenen Schule, sondern seit 2007 auch an der Partnerschule Stourbridge in England vor englischem Publikum aufgeführt. Die Arbeit an einem Shakespeare-Drama kann deshalb so anregend und fruchtbar sein, weil die innere Lebendigkeit der von Shakespeare geschaffenen Figuren es möglich macht, die eigenen Phantasie- und Schöpferkräfte so anzuregen, dass diese im künstlerischen Prozess immer wieder neu kreiert werden. Durch die große Lebendigkeit, die damit einhergeht, ist eine Aufführung vor muttersprachlichem Publikum nicht nur ein großes Erlebnis, sondern wird zu einer wirklichen Begegnung, da das, was von Shakespeare in seinen Dramen angelegt worden ist, von Muttersprachlern in ganz anderer Weise empfunden werden kann. Für deutschsprachige Schüler überwältigend ist die Resonanz des englischen Publikums, wenn ein solcher künstlerischer Prozess tatsächlich gelungen ist.

Ein weiteres Beispiel soll verdeutlichen, wie fächerübergreifender Sprachunterricht im kleineren Rahmen eines Klassenzimmers aussehen könnte. In einer gemeinsamen Musik- und Englisch-Epoche in Klasse 9 kann die Geschichte der Schwarzen in den USA erarbeitet werden. Ausgehend von Worksongs, über Spirituals, Gospels und Blues bis hin zum Jazz und Hip-Hop kann die ganze Integrationsgeschichte der Schwarzen in die amerikanische Musikkultur entwickelt werden. Der Englischunterricht unter­- füttert den musikalischen Prozess mit der inhaltlichen Erarbeitung der Songtexte sowie weiterer geeigneter Literatur. Erprobt ist in diesem Zusammenhang zum Beispiel die Arbeit an James Baldwins »Sonny’s Blues«, einer Kurz­geschichte aus den 1950er Jahren, in der dem auf die schiefe Bahn geratenen Protagonisten ein Weg ins Leben über die Musik gelingt. Ideal ist natürlich auch die Vertonung von Lyrik, zum Beispiel des wunderbaren Gedichtes »For my People« von Margaret Walker, einer Hymne, in der Walker an die Durchhaltekraft der Unterdrückten appelliert, und die Vision einer neuen Weltordnung entfaltet (»Let a new earth rise«), an der alle »Adams and Eves«, also alle Menschen ungeachtet ihrer Hautfarbe und ethnischen Zugehörigkeit, partizipieren können.

In der Verknüpfung von künstlerischem und intellektuellem Lernprozess kann die Irritation vor dem Unbekannten genommen werden, wird eine Begegnung nicht nur mit der fremden Sprache, sondern auch der fremden Kultur möglich. Die kulturelle Empathiefähigkeit, die dabei ausgebildet wird, ist losgelöst zu sehen von einer bestimmten Fremdsprache. Eine unerlässliche Voraussetzung, um solche Projekte möglich zu machen, ist der Mut des Kollegiums, entsprechende Unterrichtszeit dafür zur Verfügung zu stellen. Die Entfaltung eines emotional-künstlerischen Prozesses braucht seine Zeit. Wird diese gewährt, kann fremdsprachliche Bildung ihre oben genannten Aufgaben erfüllen und die durch Zentralprüfungen gesetzten Ziele erweitern. Dann kann sie dem Jugendlichen die Möglichkeit eröffnen, seinen eigenen Gestaltungsspielraum zu entdecken und Schritt für Schritt zu erweitern. Oder, um es mit Rudolf Steiner zu formulieren: »Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen.« Damit wäre Fremdsprachenunterricht tatsächlich Unterricht für einen nachhaltigen Frieden.

Zum Autor: Dr. Erhard Hofmann ist seit 1990 Oberstufenlehrer für Englisch und Erdkunde an der Rudolf Steiner Schule Schloss Hamborn. Außerdem ist er Mitglied im Arbeitskreis Oberstufe der LAG NRW.

Literatur: Craig Holdrege: Wie erziehen wir für eine unbekannte Zukunft, Lehrerrundbrief, Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 2014; Johannes Kiersch: Zum Fremdsprachenunterricht, Päd. Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, Stuttgart 1984; Peter Lutzker: Mehr als Vokabeln: Für einen ganzheitlichen Fremdspracherwerb, Erziehungskunst 4/2001; Rudolf Steiner: Zur Dreigliederung des sozialen Organismus: Gesammelte Aufsätze 1919-1921, Stuttgart 1972

Überarbeiter und ergänzter Beitrag aus: www.themen-der-zeit.de, 21.1.2015