Lasst uns die Schule entschleunigen!

Uwe Weiler

So ein modernes Leben kann ganz schön anstrengend sein: Neben dem Berufsalltag müssen Eltern Termine in der Schule wahrnehmen, etwas für ein Fest basteln, wichtige Zeitungsartikel lesen, wenigstens ab und zu ein gutes Buch lesen, ins Kino oder Theater gehen, Musik hören oder selbst ein Instrument spielen, regelmäßig Sport treiben, Versicherungen abschließen und die Börsenkurse studieren, die Steuererklärung machen, Verwandte besuchen, Kontakte pflegen und sich um die vielfältigen Verpflichtungen ihrer Kinder kümmern – vom Musikunterricht bis zum Sportverein. Da bekommt man schon einmal Probleme mit seinem Zeitmanagement und gerät in Stress.

Unseren Kindern und Jugendlichen geht es nicht anders. Auch sie müssen viele Anforderungen erfüllen und vielen Ansprüchen genügen. Da macht die Schule keine Ausnahme, gilt doch ein guter Schulabschluss als Basis für ein erfolgreiches Berufsleben. Das »Turbo-Abitur«, verbunden mit langen Schultagen und einer Fülle von Unterrichts­fächern, hat Fragen aufgeworfen: Braucht es nicht auch Zeit zum Abschalten, zum »Verdauen«, zum Spielen, zum Erholen? Der Wunsch vieler Jugendlicher zu »chillen«, bringt ihre Lage treffend zum Ausdruck. Die Zunahme von Alkohol- und Drogenmissbrauch ist hier nur ein Symptom.

Sind die Waldorfschulen langsam genug?

Die Waldorfschule setzt dem einiges entgegen: Epochen­unterricht über längere Zeiträume, die insgesamt nicht nur kognitive, sondern musisch-künstlerische Ausrichtung des Unterrichts. Doch Vorsicht! Nehmen wir zum Beispiel eine 7. Klasse. Bei uns hat sie innerhalb eines Schuljahres Bio­logie (des Menschen), Chemie, Deutsch (mit Grammatik), Erdkunde (mit Himmelskunde), Geschichte, Mathematik, Physik – dies alles immerhin in sich abwechselnden Epochen, also nicht zur gleichen Zeit. Aber da kommen innerhalb der Woche noch die beiden Fremdsprachen, Eurythmie, Handarbeit, Malen, Musik, Orchester, Religion, Sport, Werken sowie Deutsch- und Mathematikübungsstunden als Fachstunden im 45-Minuten-Takt dazu – also nach dem Hauptunterricht noch jeweils vier verschiedene Fachstunden pro Tag und zehn bis zwölf verschiedene pro Woche. Reichen der Epochenunterricht und eine ganzheitliche Pädagogik mit einem vielseitigen Fächerangebot aus, um wirksam etwas gegen die beschleunigten Lebensverhältnisse auszurichten?

Auf der Suche nach einer neuen Lernkultur

Die Analyse dessen, was unsere Schule eigentlich »leistet«, was davon erhaltenswert und was weniger tauglich scheint, führte uns dazu, über gesunde und rhythmische Schul­abläufe nachzudenken. Dabei tauchten Fragen auf:

  • Haben die Schüler zu viel oder zu viel verschiedenen Unterricht, zu lange Schule, zu kurze Pausen, insbesondere Mittagspausen? Wie sähen »gute Pausen« eigentlich aus?
  • Brauchen wir Ruheräume, Silentien oder Ähnliches?
  • Was soll, muss, kann, darf eigentlich Schule leisten, wo sind ihre Grenzen, und gibt es Aufgaben, die im außerschulischen Bereich von anderen gelöst werden sollten? (»Wir können nicht alles!«)
  • Müssen in allen Jahrgangsstufen so viele verschiedene »Fächer« angeboten werden? Was soll mit den jeweiligen »Fächern« erreicht werden, und geht das wirklich nur, wenn sie durchgängig über das ganze Schuljahr oder in allen Jahrgangsstufen erteilt werden?
  • Welche Bedeutung haben möglicherweise (längere) Unterbrechungen?
  • Wie erreicht man wirksam eine von allen Beteiligten gewünschte Vertiefung?
  • Machen Fächer überhaupt Sinn, die einmal wöchentlich eine Stunde erteilt werden?

Wir entschlossen uns, bei der Klärung dieser wichtigen pädagogischen Fragen nicht nur auf die bekannten traditionellen Begründungen für die verschiedenen Unter­richtsgebiete und ihre jeweiligen Zeitanteile zurückzugreifen, sondern auch auf unsere eigenen Erfahrungen:

  • Wann erleben wir die Schüler als besonders zugreifend oder aufmerksam?
  • Wann sind wir mit den Abläufen und Ergebnissen unseres Unterrichts zufrieden?
  • In welchen Situationen und wie lernen die Schüler am besten?
  • Wie erwerben sie die meisten Fähigkeiten?
  • Warum ist oftmals das Gegenteil der Fall?

Dabei deutete sich schon an, dass wir mittelfristig eine neue Lernkultur aufbauen sollten. Kurzfristig realisieren wollten wir eine neue Unterrichtsstruktur, die in der Richtung der angestrebten Ziele lag, mit folgenden Eckpunkten:

vorwiegend längere Zeittakte, das heißt weniger verschiedene Fächer innerhalb eines Tages eine längere Mittagspause mehr Fachunterricht in Epochen, das heißt weniger verschiedene Fächer innerhalb mehrerer Wochen Schwerpunkte in den Jahrgangsstufen, das heißt weniger verschiedene Fächer innerhalb eines Schuljahres.

Die Schwerpunkte der Jahrgangstufen sollten sein:

  • in den Klassen 1 bis 4 die künstlerisch-rhythmisch-spielerische Ausbildung von Grundgeschicklichkeiten
  • in den Klassen 5 und 6 der eurythmisch-musikalisch-sprachliche Bereich
  • in Klasse 7 Handarbeit
  • in den Klassen 8 und 9 Sport und Handwerk
  • in Klasse 10 der sprachlich-künstlerische Bereich
  • in Klasse 11 die Vorbereitung auf die zentralen Prüfungen und das individuelle Kunstprojekt.

In Fachepochen gibt es Handarbeit, Malen, Metalltreiben, Musik, Werken, Zeichnen ab der 5. Klasse, weitere ab der 9. Klasse. Diese Fachepochen werden in der Mittelstufe drei Stunden pro Woche und nur während eines Teils des Schuljahres unterrichtet. Als Fachstunden verbleiben Eurythmie, Fremdsprachen, Orchester, Religion, Sport sowie die Übstunden. Wir fassten diese Änderungen mit dem griffigen Wort »Entschleunigung« zusammen.

Unsere Erfahrungen mit dem neuen Stundenplan

Beschlossen wurde schließlich, die neue Zeitstruktur sowie die Schwerpunkte und die Fachepochen ab dem Schuljahr 2008/2009 umzusetzen. Neben dem Hauptunterricht (105 Minuten) galt nun für den Fachunterricht ab der 5. Klasse der 60-Minuten-Takt. Die Klassen 1-4 behielten ihre 45-Minuten Fachstunden. Die Synchronisation verschiedener Zeittakte wurde durch versetzte und längere Pausen erreicht. Wir erstellten Musterstundenpläne und reichten die entsprechenden Vorgaben an die Stunden- und Epochenplaner weiter. Die ersten Erfahrungen wollten wir kurz nach der Schuljahresmitte in Sonderkonferenzen auswerten. Nicht nur die Stunden- und Epochenpläne, sondern auch die Deputatsberechnung bereiteten uns Schwierigkeiten und erwiesen sich mitunter als konfliktträchtig, da sich eine leichte Deputatserhöhung ergab. Welche Erfahrungen machten wir mit dem neuen Stundenplan? Zu den positiven gehörte, dass nicht nur die Lehrer, sondern auch die Eltern und Schüler die Fachepochen sehr begrüßten. Negativ fiel auf, dass aus Stundenplangründen die Schultage unterschiedlich lang wurden. Außerdem zeigte sich bereits, dass die Zeitstruktur dann schwierig wurde, wenn Unterricht verschoben werden musste, zum Beispiel zwei Fachstunden in die Zeit des Hauptunterrichtes. Auch wurden die Pausen für die Unterstufe zu lang und lagen insgesamt zu verteilt. Die Richtung sollte aber unbedingt erhalten bleiben.

Im Schuljahr 2009/2010 entwickelten wir unser Modell weiter. Die eingeschlagene Richtung konnte aber Dank vieler guter Ideen beibehalten werden. Die wichtigste Änderung war, dass wir auf einen 55-Minuten-Takt umstiegen und alle Hauptunterrichte auf 115 Minuten verlängerten. Kosten- und deputatsneutral lässt sich das umsetzen, wenn die Oberstufe freitags einstündig Hauptunterricht hat, die Mittelstufe auf eine Übstunde verzichtet und die Unterstufenklassen die Malstunde in den Hauptunterricht ziehen.

Dadurch wurde erreicht, dass

  • der Hauptunterricht kompatibel mit den Fachstunden verschoben werden kann (zweimal 55 Minuten + fünf Minuten Wechselpause)
  • die unteren Klassen nur einmal eine um zehn Minuten längere Pause haben und
  • die Pausen sehr einheitlich liegen, besonders
  • die große Pause für alle gemeinsam ist, was die Aufsicht entlastet.

Manche unterschiedliche Fachepochenlängen mussten angeglichen und vereinheitlicht werden. Dennoch: Unter Bewahrung der wesentlichen Elemente gelang die Veränderung! Wir hoffen, dass wir nun in Bezug auf die Zeitstruktur in eine Konsolidierungsphase eintreten. Dann werden wir wohl bald etwas Raum gewinnen, weitere Veränderungen zu planen und umzusetzen. Aus den Überlegungen der Anfangsphase der Schulentwicklung sind ja noch viele Aufgaben auf dem Wege zu einer neuen Schulstruktur übrig geblieben.

Zum Autor: Uwe Weiler arbeitet seit 1982 als Klassenlehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Witten und war maßgeblich an den beschriebenen Entwicklungen beteiligt.