Parzival – ein Lebensmodell

Antje Greiling

Parzival – mehr als nur eine Epoche

So lautete die Überschrift von Sophies Klausur, einer von 28 Arbeiten, die zum Abschluss der Parzival-Epoche Ende Januar geschrieben wurden. Die Schülerinnen und Schüler hatten in der Klausur den Auftrag bekommen, für die Zeitschrift Erziehungskunst über die Parzival-Epoche in der 11. Klasse einen informierenden Text zu verfassen. Die Idee, einerseits die Epoche würdig abzuschließen und andererseits gleichzeitig für die Abschlussprüfung zu üben, hatte ihren besonderen Reiz.

Beim Durchlesen der Klassenarbeiten wurde rasch deutlich, dass die Darstellung der Parzival-Epoche aus der Sicht der Schülerinnen und Schüler tatsächlich in die Erziehungskunst gehört: Denn hier geht es offenkundig doch um viel mehr als die Lektüre eines mittelalterlichen Textes, hier begegnet man einem jungen Mann, Parzival, dem es schließlich gelingt, durch alle Schwierigkeiten hindurch seine Identität und seinen Lebenssinn zu finden.

Maren bringt es auf den Punkt: »Ich finde, dass dieser Roman gut ist für eine 11. Klasse, da wir uns in einer wichtigen Phase unseres Lebens befinden, wo wir Fehler machen, um uns selbst zu finden, um uns klar zu werden, wer wir sind und was der Sinn unseres Lebens ist. All dies macht Parzival auch durch, nur zu einer anderen Zeit.«

Dabei hielt sich die Begeisterung für das Buch, als es am ersten Morgen nach den Weihnachtsferien verteilt wurde, zunächst in Grenzen. Ist das so etwas wie das Nibelungenlied?

Wie kann Erziehung aussehen?

Um den Jugendlichen die Person des Parzival und seine Entwicklung nahezubringen, habe ich die Geschehnisse der einzelnen Kapitel jeweils auf der Basis erziehungswissenschaftlicher Begriffe reflektiert.

Maren fasst sie zusammen: »Besonders hervorgehoben haben wir die Begriffe Erziehung, Bildung, Identität, Mündigkeit, Selbstbestimmung, Mut, Gewissen und Schuld.«

Begonnen haben wir mit den Begriffen der Erziehung und Bildung im Zusammenhang mit Parzivals Jugend in der Soltane. Felix schreibt über die Waldeinsamkeit: »Parzival wird vorerst fernab der ritterlichen Welt von seiner Mutter Herzeloyde großgezogen. Diese versucht lange, ihren Sohn vor den Gefahren der Welt zu schützen. Dieses Schutzbedürfnis ist nicht unbegründet, denn Herzeloyde verlor ihren Gatten, Parzivals Vater Gachmuret, durch feindliche Ritter. Deshalb ist Herzeloyde so besorgt um ihren Sohn. Sie verlässt das ritterliche Hofleben und zieht sich mit Parzival und einer Schar Untergebener in einen Wald zurück. Die Untergebenen haben den Auftrag, Parzival vor den Gefahren des Lebens zu schützen. Auf keinen Fall soll der junge Parzival Ritter kennenlernen oder etwas vom ritterlichen Hofleben erfahren.« Im Partnerbriefing haben sich die Schüler die Begriffe erarbeitet und anschließend auf die Situation des Parzival bezogen. Es kamen die Fragen auf: Ist Parzival eigentlich richtig erzogen worden? Warum hat ihn Herzeloyde nicht erzogen? Wie hätte eine dem Ritter gemäße Erziehung ausgesehen? In diesem Zusammenhang wurden die ritterlichen Tugenden besprochen sowie das Wort hövscheit (fein gebildetes und gesittetes Wesen und Handeln).

Die Übertragung auf das Heute durfte nicht fehlen: Was bedeutet eigentlich der Erziehungsbegriff für uns? Als Hausaufgabe wurde intensiv erörtert, ob es heute noch so etwas wie eine Soltane gibt/geben kann und ob das Aufwachsen in einer solchen Welt sinnvoll ist. In der Reflexion zum Tag schreibt Sofia in ihr Epochen-Portfolio: »Zudem hat sich für mich die Frage gestellt, wie ich selber erzogen worden bin und wie ich meine Kinder erziehen würde. Ich glaube, dass Freiheit der wichtigste Aspekt in einer Erziehung sein sollte.«

Am Ende der Epoche kamen wir auf die Situation in der Soltane noch einmal zurück und konnten Herzeloydes vermeintliche »Nicht-Erziehung« würdigen. Stellte sie nicht auch eine Offenheit, eine Freiheit dar, die eine natürliche und nicht verbogen-verbildete Sicht auf die Dinge gewährt?

Wie werde ich selbstständig?

Aber was passiert weiter mit Parzival? Er wird schließlich Ritter und lernt von Gurnemanz kämpfen und das entsprechende ritterliche Verhalten. Von ihm bekommt er auch den verhängnisvollen Rat, dass man nicht zu viel fragen sollte. Und er verliebt sich in Kondwiramur. Im Zusammenhang mit dem Kondwiramur-Kapitel haben wir uns mit den Begriffen der Selbstständigkeit, Selbstbestimmtheit und Mündigkeit beschäftigt. Parzival besiegt die Belagerer Belrapeires und wird durch seinen ritterlichen Mut und seine Kampfkraft zum »bartlosen« König. Er gewinnt die Liebe Kondwiramurs, heiratet sie, ist aber zu jung und unerfahren, um die eheliche Liebe zu vollziehen. Erst nach ein paar Tagen entdecken die Teenager gemeinsam die Sexualität. Könnte nicht hier schon die Geschichte mit einem wunderbaren Happy End auf­hören? Was gilt es noch zu erreichen? Parzival ist König!

Und doch wurden in den Unterrichtsgesprächen die Zweifel an Parzivals Reife und Selbstständigkeit laut. Hat er nicht Gurnemanz’ Rat, nicht zu fragen, im ersten Treffen mit Kondwiramur über seine eigene Wahrnehmung gestellt? War das eine eigenständige Entscheidung? Was braucht man eigentlich, um selbstständig ein Urteil oder eine weittragende Entscheidung fällen zu können? Wann und wie ist man mündig? Diese Fragen schlossen sich an. Parzival ist eben noch nicht mündig, er möchte gar zurückreiten zu seiner Mutter.

Möglicherweise ist er auch noch nicht reif für die Liebe, denn erst in der Trancesituation über den drei Blutstropfen im Schnee, spürt Parzival die ganze Dimension seiner leidenschaftlichen Liebe und Sehnsucht.

Gibt es einen Gott?

Eine besondere Schärfe gewinnt Parzivals schuldloses Schuldigwerden auf der Gralsburg. Die Schuld, die Parzival durch die unterlassene Fragestellung auf sich zieht, wird ihm erst später durch Sigune und Kundry ins Bewusstsein gebracht. In der Klasse wurde die Frage laut, warum Parzival die wichtige Frage nicht gestellt hat. Kann es allein an Gurnemanz’ hinderlichem Rat gelegen haben, so wie in der Situation mit Kondwiramur?

In einem Gruppenpuzzle wurden die Begriffe Erkenntnisfähigkeit, Empathiefähigkeit, Mut und Gral erarbeitet und auf Parzivals Handlungsweise bezogen: Fehlte ihm ganz einfach der Mut? Oder die Erkenntnis? Ist seine Empathiefähigkeit eingeschränkt? Hat ihn die erdrückende Präsenz des Grals eingeschüchtert? Wie hättet Ihr an Parzivals Stelle gehandelt? Wie hättet Ihr euch gefühlt?

Die Karfreitagsthematik ist schon vor Parzivals zweitem Eintreffen am Artushof immer präsent durch das Bild der Sigune, die wir als Pietà interpretiert haben, als Bild der andauernden und verzehrenden Trauer und der Mahnung zu Treue und Aufrichtigkeit. Offen tritt die Karfreitagsstimmung zutage, nachdem Kundry Parzival während der Tafelrunde öffentlich entehrt und ihm den Vorwurf der Schuld und des Versagens macht. Im dunkelsten Augenblick seines Lebens verliert Parzival zudem noch den Glauben an Gott, man hört ihn fast sagen: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? »Weh!«, rief er. »Was ist Gott?«

Im Partnerbriefing wurden die Begriffe der Schuld und des Gewissens erarbeitet. Ist Parzival denn wirklich schuldlos schuldig geworden? Wie kann das gehen? Und: Zeigt sich im Gewissen, in dieser feinen inneren Stimme, nicht doch die Präsenz Gottes? Eine Schülerin reflektiert: »Heute haben wir über Karfreitag gesprochen. Ich bin verunsichert und weiß nicht, wo ich meinen Glauben finden soll. Gibt es einen Gott? Worin liegt der Sinn des Lebens und woran soll man glauben? – an sich selbst.«

Annahme der Schuld und Erkenntnis

Im wahrsten Sinne erlösend war das Karfreitagskapitel um Trevrizent, das wir im Plenum zum Klingen gebracht haben. Der Moment, in dem Parzival seine von andern auferlegte Schuld annimmt, so wie Jesus die Sünde der Welt, tritt ein Wendepunkt in seiner Entwicklung ein. Er wird zur christusgleichen Erlösergestalt, der Weg zum Gralskönig ist frei. Der Weg zum Osterfest ist nicht mehr weit, das Licht der künftigen Parzival-Gralsgestalt strahlt schon ein bisschen in die Welt.

Sofia schreibt in einer Hausaufgabe zu Parzivals Wandlung: »Trevrizent belehrt Parzival über die Verwandtschaftsverhältnisse der Gralsfamilie. Ebenfalls erklärt er ihm die Erschaffung des Menschen, den Sündenfall und die Geschichte Kains, womit er Gott für Parzival positiv darstellt. Trevrizent rät ihm dazu, wieder gottesfürchtig zu sein und erklärt ihm auch, wie man zum Gralsdienst berufen wird. Parzival erlangt Erkenntnis und kann sich selbst reflektieren. (...) Er erkennt seine Schuld und versteht zum ersten Mal, was er getan hat. Durch Trevrizent beginnt Parzival die Welt und sich selbst zu verstehen.«

Das Aufatmen im Unterricht und das Lösen der fast greifbar bedrückenden Spannung kam jedoch erst später: Nach der Karfreitagsszene haben wir die Gawan-Geschichten gelesen, die den Jugendlichen wie eine Befreiung vorkamen. Wie gut, dass dem »heiligen« Parzival eine so bodenständige und weltgewandte Rittergestalt gegenübergestellt wird! Oder: Begegnet man im Parzival dem noch unausgereiften Menschen mit den Herausforderungen der Adoleszenz, dann erfreut der Blick in die Zukunft, auf den sicher handelnden und Situationen durchschauenden jungen Erwachsenen Gawan.

Der Gral heute – was kann das sein?

Erst ganz am Ende der Epoche, nachdem Parzival Gralskönig geworden ist, kam die Frage auf, was denn der Gral für uns heute bedeuten kann.

Maren schreibt: »Die Gralsburg ist ein rätselhafter Ort, der von Gralsrittern bewacht wird. Der Gral hat unglaubliche Kräfte, er soll Glücksseligkeit, ewige Jugend und Speisen in unendlicher Fülle bieten. Heute bedeutet diese Suche nach dem Gral die Suche nach uns selbst: Was ist unsere Aufgabe im Leben? Was ist das, was mich ausmacht?«

Rebekka schreibt: »Ich glaube, auch die Gralssuche kann man übertragen betrachten. Wir suchen alle nach ›unserer‹ Identität – den Gral –, der tief versteckt in uns ist. (...) Und wenn man versucht, diese Identität/den Gral zu finden, wird man ihn nicht finden. Man trifft in den unerwarteten Momenten darauf. Aber stellt man dann die richtige Frage? Was ist die richtige Frage? Ist es die Frage: ›Wer bin ich?‹«

Sophia schreibt: »Heute suchen wir, als Menschheit, in gewisser Weise auch nach dem Gral. Ein jeder wünscht sich Reichtum, ewige Jugend und Glückseligkeit und Gesundheit. Diese Dinge verkörpern ›unseren‹ Gral und wir sind ständig auf der Suche nach ihm.«

Thabea schreibt: »Jeder sucht am Anfang, vielleicht auch bis ans Ende seines Lebens nach der einen Sache, die ihn erfüllt und die das jeweilige Leben lebenswert macht. Aus diesem Grund ist Parzival auch passend für die 11. Jahrgangsstufe, da auch wir uns mit der Frage des Lebens auseinandersetzen oder es schon getan haben. Genauso wie Parzivals Entwicklung beschrieben wird, entwickeln auch wir uns stetig weiter und müssen viele Aufgaben meistern. Ich hoffe, dass jeder Mensch am Ende seines Lebens sagen kann, dass er oder sie, genau wie Parzival, seinen/ihren Gral gefunden hat.«

Parzival – ein Eliteroman?

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass im Anschluss an die Klausur jedoch auch Kritikpunkte am Parzivalroman gefunden und diskutiert wurden: Dass es sich um eine Art »Eliteroman« handelt, in dem es eigentlich nur um schöne und reiche Menschen geht, während jene, die am Rand der Gesellschaft stehen, keine Erwähnung finden. Alle sind zudem miteinander verwandt und verstrickt. Darüber hinaus wird die Starrheit des vorgestellten Wertekanons kritisiert, zum Beispiel dass Feirefiz den Gral nur erkennen kann, als er zum Christentum konvertiert. Das spricht nicht gerade von religiöser Toleranz.

Trotzdem wird die Parzival-Lektüre von den Schülerinnen und Schülern den Lesern der Erziehungskunst herzlich empfohlen. Felix schreibt: »Lest selbst!«

Zur Autorin: Antje Greiling ist Lehrerin für Deutsch und Englisch in der Oberstufe der Rudolf-Steiner-Schule in Bielefeld und Lehrbeauftragte an der Universität Bielefeld

Literatur: T. Richter: Pädagogischer Auftrag und Unterrichtsziele – vom Lehrplan der Waldorfschule, Stuttgart 2010 | H. Schirmer: Bildekräfte der Dichtung. Zum Literaturunterricht der Oberstufe, Stuttgart 1993 | W. von Eschenbach / M. Laurin: Parzival, Stuttgart 2014