Plastizieren gegen Mobbing. Projekt an der Waldorfschule in Köln

Silke Speckenmeyer, Christine Gaide

Die Erdkunde-Epoche mit den Schilderungen der natürlichen Landschaften und Kulturformen bildete die Grundlage für unser Plastizierprojekt. Eine Landschaft sollte gestaltet werden, womit die Kinder die Möglichkeit bekamen, in einer gemeinsamen schöpferischen Tätigkeit einander zu begegnen. Es war offenkundig, dass ein sozialkünstlerisches Projekt dieser Größenordnung unmöglich in einem Klassenraum an Schultischen durchgeführt werden konnte. 35 Kinder sollten sich ausbreiten dürfen und mit ihnen die entstehende Landschaft. Die dafür organisch gesägte Holzplatte (zwölf Quadratmeter) bot dynamische Arbeitsplätze für alle Kinder. Durch vier gesägte Löcher konnten sogar 360-Grad-Arbeits-plätze geschaffen werden. Die Kinder wurden beim Anblick dieser riesigen leeren Arbeitsfläche von Tatkraft erfasst und konnten es kaum abwarten, die Fläche zu füllen.

Zu Beginn hatte jedes Kind einen Batzen Ton in der Hand. Nun hieß es, Flocken zu rupfen und diese auf der langsam verschwindenden Holzfläche zu verstreichen. Der Ton – der gesprochene, wie der zu plastizierende – verdichtete sich. Viele Vorstellungen, Visionen und Ideen tauchten auf, wie diese Landschaft gestaltet werden könnte.

Es wurden Arbeitsgruppen gebildet: das Gebirge, die Stadt, die Wüstenoasen, der Vulkan, die Anderswelt und das Wasser. Es ging schnell voran, ein großzügiges Arbeiten entwickelte sich, jeder sprach mit jedem. Die Schüler, die im Lauf der Treffen ihre Arbeitsgruppen auch wechselten, fanden Mittel und Wege, ihre Ideen auszutauschen. Es wurde laut überlegt: Wie hoch denn wohl das Haus sein müsse, wenn nebenan das Gebirge stünde? Konnte der Vulkan sich wirklich entsprechend in seiner Größe ausbreiten? Behutsam wurden die Kinder dahin gelenkt, dass es bei dieser Arbeit nicht um das »Recht des Stärkeren« ging, sondern dass sie selber sahen, wie sich die Dinge entwickeln »wollten«. Prozessorientiertes Arbeiten entstand durch den angeregten Austausch der Schüler untereinander. Ja, das war beschwerlich, das Ringen um und mit der Form. So durchlief die soziale Interaktion während des Plastizierens verschiedene Phasen: Konzentration, Beleidigtsein, Ruhe, Diskussionen, Wut, innere Einkehr. Inmitten dieser Auseinandersetzung wurden Kompromisse gefunden und das Ganze in den Blick genommen. Die Kinder lernten: Dem Material können wir vertrauen!

Das gemeinsame Werk drängt in den Vordergrund

Der Ton gibt die Antwort. Er gibt nach, ohne sich aufzugeben. Genau diesen Charakter verinnerlichten die Kinder nach und nach. Diesen Lernprozess im sozialen Miteinander wollten wir erreichen: Die Kinder erlebten sich selbst in der Auseinandersetzung, sie verloren sich nicht und blieben offen für neue Möglichkeiten.

Inspiriert durch das Erschaffen ihrer Landschaft malten die Kinder Karten mit dazugehöriger Legende. Und natürlich kam die Frage auf, wie real denn die Entfernungen überhaupt sind?! Für einige Kinder lagen Gebirge und Vulkan fünf Kilometer auseinander – andere reagierten spontan empört und sprachen von 500 Kilometern. Die Kinder spürten, dass es jetzt wichtig war, einen Ausgleich zu schaffen. Während die Landschaft wuchs und beweglich in Größe und Weite immer harmonischer wurde, nahmen die Kinder wahr, dass sie einer höheren Sache »dienten«.

Das gemeinschaftliche Werk stand im Vordergrund. Sichtbar wurde dies in der Ausgewogenheit der Landschaft, sie »legte« sich auch nach und nach auf die Arbeitsatmosphäre.

Kunst entsteht und vergeht

Um den Kindern den Gedanken, dass Kunst entsteht und vergeht, nahe zu bringen, stellten wir ihnen im Lauf des Projekts die vergängliche Landart-Kunst von Andy Goldsworthy vor. Goldsworthy überlässt seine schöpferischen »Einmischungen« der Natur, die ihm sein Material anbietet. Zur künstlerischen Arbeit gehört als ein wichtiger Erfahrungsprozess das Loslassen. Wir hätten an dieser Landschaft noch lange weiterbauen können … »Fertig« wurde sie nicht. Wichtig war der Prozess und der war für uns alle intensiv.

Leider ließ es der Schulalltag nicht zu, unser Werk langsam vergehen zu lassen. An einem Punkt mussten wir in die Zukunft blicken und uns der Realität stellen: Wir mussten abbauen! Den Kindern war das erstaunlich schnell klar. Sie betrachteten ihr Werk ausführlich und als dann genug geschaut und auch fotografiert worden war, bauten wir die Landschaft zurück, das heißt, der Ton wurde achtsam in seinen Urzustand zurückversetzt und steht heute als Materialangebot in unserer Offenen Ganztagsschule. Das Plastizierprojekt war eine Momentaufnahme, ähnlich den Sand­burgen von Kindern am Strand, die mit der nächsten Flut vergehen und dann – irgendwann – wieder neu erbaut werden. Denn Leben heißt, sich entwickeln, Entwicklung heißt Wandel. Die Kinder sind an sich und aneinander durch diesen sozialkünstlerischen Prozess wieder ein Stück gewachsen und sozial reifer geworden. Sie gehen gestärkt in dem sozial tragenden Gefühl, eine Schicksalsgemeinschaft zu sein, nun ihren Weg in der sechsten Klasse. Und dazu gehören wir auch als Lehrer und Eltern.

Zu den Autorinnen: Silke Speckenmeyer ist Bildhauerin und Waldorflehrerin. Sie studiert berufsbegleitend Sozialkunst/Kunsttherapie an der Alanus Hochschule in Alfter. Christine Gaide ist Klassenlehrerin. Sie unterrichtet seit 1984 an der Freien Waldorfschule Köln-Chorweiler.

Literatur:

Christian Breme: Wieder Erde in die Hand nehmen, Basel 2012; Hella Loewe: Elementares plastisches Gestalten, Stuttgart 2004; Anke-Usche Clausen, Martin Riedel: Plastisches Gestalten für alle Altersstufen, Stuttgart 1995; Rudolf Steiner: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis, Dornach 1989