Raupe, Kokon, Schmetterling. Metamorphosen des Lernens

Thomas Ziegenbalg

Es gibt eine Phase, in der das Kind gerne viel Stoff aufnimmt. Hier bietet sich das Bild der grünen Raupe an, die immerzu mit Essen beschäftigt ist. Dann gibt es die »Kokon-Phase«, in der der Schüler wie verpuppt ist, gar nichts aufnimmt, und wir ahnen, dass er den Stoff innerlich ver- arbeitet, ihn verwandelt, verdaut, eigene Fragen findet. In der »weißen Phase« müssen wir ihn in Ruhe lassen und warten. Dann gibt es die Phase des geschlüpften Schmetterlings, der eine Wandlung durchgemacht hat, und nun aus eigenem Antrieb, mit einer eigenen Fragestellung die erworbenen Fähigkeiten entfaltet und anwendet. Er wird selbstständig und frei. Es gilt für uns Lehrer, einen Blick für diese unterschied­lichen Phasen zu entwickeln. Schaffen wir das, so werden wir dem Schüler gerecht, segeln mit ihm im Wind, und werden Verständnis und Resonanz erleben. Schaffen wir das nicht, werden wir ständig in Dissonanzen mit dem Schüler leben und wenig Synergieeffekte freisetzen. Nun kann man einwenden, dass das ja gar nicht geht bei einer großen Klasse mit 38 Schülern. Sicherlich ist es bei einer großen Klasse schwieriger und bei einer Gruppe von nur 12 Schülern entsprechend leichter. Denn nicht jeder Stoff ist auch für jeden Schüler gleichermaßen geeignet. Habe ich allerdings Fragen an den Schüler: »Was brauchst du jetzt gerade?«, »Was fehlt dir?«, so werde ich sensibler für seine Entwicklung und der Schüler merkt, dass ich mich für ihn interessiere, ihn verstehe. Dann kann er mir auch wiederum vertrauensvoller folgen und vielleicht etwas ausführen, was ihm nicht so entspricht.

Es ist ein sensibles, gegenseitiges Abtasten, welches das pädagogische Klima fördert und schließt sicherlich nicht aus, dass wir auch einmal Themen setzen, Vorgaben machen. Es schließt auch nicht aus, dass wir z.B. zu gefährliche Dinge verbieten. Im Handwerk gibt es Dinge und Arbeitsschritte, die aus der Sache heraus sinnvoll sind und auch in einer bestimmten Reihenfolge geschehen müssen, um zu gelingen. Mancher Schüler sucht eigene Wege. Lassen wir ihn diese auch gehen. Auch Umwege können Wege sein.

Wir sollten aber mit ihm im Gespräch bleiben, seine Umwege begleiten. Wenn es nicht geht, schauen wir gemeinsam, warum es nicht geht. Hieran kann viel gelernt werden im Erkennen und Handeln. Hieran kann sich praktisches Denken entwickeln. Wenn aber der Umweg auch ein möglicher Weg war, so sollten wir das anerkennen, und selbst bereichert daraus hervorgehen. Hier kann der Schüler auch Lehrer sein.

Die Lernstufen beim Bau beweglicher Spielzeuge

Wie sehen die drei Entwicklungsstufen – Raupe – Kokon –Schmetterling – an einem konkreten Beispiel aus dem Werkunterricht einer siebten Klasse aus? Wir möchten bewegliches Spielzeug herstellen und beginnen mit einem einfachen Beispiel: einem Specht, der an der Stange herunterrutscht und klopfend den Schnabel bewegt. Die Schüler nehmen den Stoff auf (»Raupen-Phase«) und lernen exemplarisch, wie ein Ablauf von Arbeitsschritten auszusehen hat. Alle Schüler stellen das gleiche Spielzeug her. Die Nachahmung steht hierbei im Vordergrund.

In einem zweiten Schritt lasse ich die Schüler unter einer größeren Palette von Spielzeugen auswählen und eines davon nachbauen. Das kommt ihrem Freiheitsdrang entgegen, erweitert ihren Horizont, ohne sie zu überfordern. Es wird geübt, eine erworbene Fähigkeit ausgebildet. Als Gruppe sehen sie so die Vielfalt des Themas mechanischer und ästhetischer Lösungen.

Darauf folgt die zweite Entwicklungsstufe, die »Kokon-Phase«, in der die Schüler entweder äußerlich untätig sind, oder scheinbar ziellos mit Materialien experimentieren. Sie weichen dabei der vorgegebenen Aufgabe aus. Innerlich können sie aber um so aktiver sein. Das ist im Fach Handwerk natürlich schwer zu ertragen. Wenn ich es aber aushalte, und sie mit einer eigenen Idee, einem eigenen Entwurf daraus hervorgehen, können völlig neue, kreative Ideen entstehen und neue Produkte entwickelt werden. Hier sind wir dann in der »Schmetterlings-Phase«, in der mit einer Fähigkeit schöpferisch, frei umgegangen wird. So unangenehm uns die Kokon-Phase ist: sie ist notwendiges Durchgangsstadium für die dritte Entwicklungsstufe, die »Schmetterlings-Phase«, die im Erüben und Wachsen von Fähigkeiten besteht. Aus freien Impulsen heraus kann nun Neues geschaffen werden. Denkt man das Lernen in Metamorphosen, befähigt es den Pädagogen, chaotische »Kokon-Phasen« nicht mehr abzulehnen, sondern als notwendigen Durchgangspunkt und als Vorstufe kreativen Schaffens zu betrachten.

Zum Autor: Thomas Ziegenbalg ist Kunst- und Werklehrer an der Freien Waldorfschule in Marburg.

Literatur: Rudolf Steiner: Das Rätsel des Menschen. Die Geistigen Hintergründe der menschlichen Geschichte. GA 170, Dornach 1978, 7. Vortrag; Coenraad van Houten: Erwachsenenbildung als Willenserweckung, Dornach 1993