Raus aus der Komfortzone. Geschichtswerkstatt an der Freien Waldorfschule Balingen

Holger Grebe

»Ich habe stets geglaubt, dass es keine militärische Lösung für den Konflikt geben kann, weder in moralischer noch in strategischer Hinsicht. Nachdem aber absolut klar ist, dass eine Lösung gefunden werden muss, frage ich: Warum soll ich warten, bis sie sich selbst findet?« – Im Anschluss an diese Worte des jüdischen Dirigenten Daniel Barenboim bei der Verleihung des renommierten Wolf-Preises in der israelischen Knesset am 10. Mai 2004 kommt es zum Eklat. Die israelische Bildungsministerin Limor Livnat beschuldigt den Preisträger, den Staat Israel anzugreifen. Wachsende Unruhe im Publikum. Barenboim weist die Anschuldigung zurück und pocht darauf, in seiner Rede nur aus der israelischen Unabhängigkeitserklärung von 1948 zitiert zu haben, in der die Gleichheit aller Bürger, aber auch die Verpflichtung zu »Frieden und gute(r) Nachbarschaft« ausgesprochen worden sei. Währenddessen hält im Publikum ein bärtiger Besucher mit Kippa eine Fotomontage hoch, in der das Tor des Vernichtungslagers Auschwitz mit der Aufschrift »Musik macht frei« zu sehen ist. Die Preisverleihung für Barenboims Verdienste um sein »West-Eastern Divan Orchestra«, in dem seit 2000 junge Musiker aus Israel und allen mit dem jüdischen Staat verfeindeten arabischen Nachbarstaaten zusammen spielen, droht zum Fiasko zu werden.

Wenn historische Gewissheiten verloren gehen

Diese Szene, als kurze Sequenz aus dem Dokumentarfilm von Paul Smaczny »Knowlegde is the beginning« von 2005 eingespielt, bildet den Angelpunkt einer Geschichtsepoche an der Freien Waldorfschule Balingen. Der zementiert erscheinende Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern soll für drei Wochen zum Gegenstand des gemeinsamen Nachdenkens in einer zwölften Klasse werden.

Am Beginn der Studien steht die Auseinandersetzung mit dem Roman von Susan Abulhawa »Während die Welt schlief« (deutsche Fassung 2013). Die palästinensische Autorin erzählt das Vertreibungsschicksal der Familie Abulhija, seit 800 Jahren Olivenbauern in Ein Hod, östlich von Haifa, von 1948 bis 2002. Yussuf und Amal, die Kinder von Hasan und Dalia, wachsen im Flüchtlingslager von Jenin im nördlichen Westjordanland auf. Ihr Bruder Ismael wird von einem israelischen Soldaten als Säugling geraubt, für die Mutter Dalia »ein weiteres Trauma, das sie lebenslang prägt«, wie Tina in ihrer Portfolio-Mappe schreibt.

Er wächst als Jude David auf und entdeckt erst spät unter tragischen Begleitumständen seine palästinensische Herkunft. Welche Symbolik: In der Bibel ist Ismael der Sohn Abrahams, den er mit Hagar, einer Sklavin seiner Frau Sara, zeugte. Er wird als Erbauer der Kaaba und Stammvater der Araber verehrt. Er repräsentiert die ursprüngliche Verwandtschaft zwischen Israeliten und Arabern! Im Roman wird dieses mythische Bild nah an die politische Gegenwart herangerückt, als sich Yussuf und David in einem Klima der Gewalt am Checkpoint als Brüder erkennen. Der Verlust der Zugehörigkeit und die Suche nach einer neuen Identität – sie durchziehen nicht nur den Roman, sondern auch als Chiffre der Geschichte des 20. Jahrhunderts unsere Unterrichtsgespräche. Um besser zu verstehen, was den jüdischen Soldaten Moshe dazu bringt, für seine Frau Jolanta, eine Überlebende des Holocaust, einen fremden Säugling zu rauben, beschäftigen wir uns mehrere Tage mit der Shoah. Die Schüler waren erschüttert und tief bewegt.

Zeitzeugen-Gespräche führen in die Multiperspektivität

Pavel Hoffmann, 1939 in Prag geboren, hat als vier- bis sechsjähriges Waisenkind das Ghetto Theresienstadt überlebt. Bis heute versucht er, den Verlust von vier Generationen seiner Familie in Zeitzeugengesprächen aufzuarbeiten. Über 40 Schülerinnen und Schüler der Klassen 12 und 13 folgen gebannt seinen Ausführungen.

Eine große Herausforderung an das Mitgefühl, aber auch an die Reflexionsfähigkeit der Jugendlichen besteht darin, die Fluchtwege und Motive zu verfolgen, die Zehntausende von Juden seit 1933 vor, während und auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft nach Palästina führten. Warum scheiterte der UN-Teilungsplan von 1947? Hätte es Handlungsalternativen zu den israelisch-arabischen Kriegen zwischen 1948 und 2006 gegeben? Kann die Gründung des Staates Israel als legitime Konsequenz aus einer humanitären Katastrophe verstanden werden? Darf die Unabhängigkeitserklärung, die David Ben Gurion am 14. Mai 1948 im Stadtmuseum von Tel Aviv verlesen hat, noch heute als eine Art Leitstern für das israelisch-palästinensische Zusammenleben verstanden werden? Ist die arabische Perspektive auf die Nakba, die Katastrophe der Vertreibung, berechtigt oder sind Palästinenser nur eine »Erfindung von Arafat«, wie aus jüdisch-nationalen Kreisen bis heute zu hören ist? Wie ist der Versuch, 2011 im Rahmen der UNO einseitig einen Palästinenserstaat auszurufen, zu bewerten?

Denken lernen an Aufführungsorten

Können wir eine Krise lösen mit demselben Denken, das sie hervorgebracht hat? Diese Frage hat der Sozialpsychologe und Zukunftsforscher Harald Welzer angesichts unserer »Wachstumsideologie« aufgeworfen. Sie steht in der Klasse tagelang im Raum. Daniel und Philipp stellen dessen Stiftung »Futurzwei« vor. Um dem jugendlichen Bedürfnis nach einer offenen Lernwerkstatt entgegenzukommen, stellte ich die Portfolio-Methode vor. Im Zentrum steht die Idee, dass die Schüler im Rahmen eines vorgegebenen Themas ihre persönlichen Interessen verfolgen können. Dabei kommen auch andere Gegenwartsphänomene in den Blick: Kann der neue Papst Franziskus angesichts des höfischen Gehabes des Limburger Bischofs Tebartz van Elst mit seinem Leitbild einer »armen Kirche für die Armen« als Weg aus der kirchlichen Vertrauenskrise betrachtet werden? Oder: Wie hängt der syrische Bürgerkrieg mit der Flüchtlingstragödie von Lampedusa zusammen?

Der Anregung, für die jeweils zehnminütigen Präsentationen »Aufführungsorte« außerhalb des Klassenraums zu suchen, damit wir – einer Warnung von Welzer folgend – nicht immer in unserer »Komfortzone« bleiben, kommen einige Zwölftklässler begeistert nach. Ein unbehaglicher Schuppen im Gartenbaugelände taugt als Ambiente für Flüchtlingsfragen. Der Geruch von Leim und Sägespänen in der Schreinerei bewährt sich als Bühne für eine biographische Skizze des Greenpeace-Gründers David McTaggart, der auch gegen den Raubbau an den Wäldern vorgeht. Ein ungewöhnliches Szenario im Klassenraum, bei dem die Mehrheit steht, eine abgezählte Minderheit aber sitzt, bietet sich als Erfahrungsfeld für die Auseinandersetzung mit Claude Lanzmann an, dem Regisseur des monumentalen Dokumentationsfilms »Shoah« von 1985. Bianca erinnert mit diesem Einfall an das stundenlange Stehen der entkräfteten jüdischen Häftlinge auf dem Appellplatz, während die SS-Führer saßen. Im Prozess der künstlerisch-sozialen Auseinandersetzung, die im Wärme-Feld der Arbeit an den Portfolio-Mappen gut gedeihen kann, bekommt das jugendliche Engagement Ernst und Bedeutung. Bis zu 65 Arbeitsstunden investieren einzelne in Recherche, Texte und Gestaltung ihrer Mappen. Es entstehen Malereien, Foto- und Text-Collagen, kreative Texte zum Roman. In vielen Familien beginnt ein Generationen-Gespräch.

Durch Johannas Präsentation zum Mössinger Generalstreik 1933, als die KPD gegen Hitlers Machtantritt den Aufstand probte, erfahren wir nebenbei, dass der Rädelsführer Jakob Textor der Lebensgefährte ihrer Großmutter war. Er ist 2010 mit 101 Jahren gestorben. Textor befestigte am Fabrikschornstein der Textilfabrik Pausa die rote Fahne und bekam eine achtmonatige Haftstrafe. Dass Johanna gerade in diesen Wochen als Flötistin in einem Jugendorchester mitwirkte, das zum Gelingen der Produktion des Regionaltheaters Lindenhof »Ein Dorf im Widerstand« beitrug, sei nebenbei erwähnt.

Ein syrischer Geiger als Brückenbauer

Wie schicksalshaft knüpfen zwei Musikerinnen aus der Klasse in diesen Tagen Kontakt zu dem syrischen Bürgerkriegsflüchtling Ali Moraly, der wenige Wochen vorher das zerstörte Damaskus verlassen hat, um in Balingen bei Verwandten Unterschlupf zu finden.

Ali, der seit Jahren in Barenboims West-Ost-Orchester Geige spielt und auch an dem legendären Konzert in Ramallah 2005 teilgenommen hat, besucht uns. Auf einer Wandkarte des Mittelmeerraumes skizziert er die geopolitische Situation und erklärt in gepflegtem Englisch, dass der syrische Bürgerkrieg seine langfristigen Ursachen in der Zeit des europäischen Imperialismus hat. Durch sein Portrait des großen Dirigenten und Humanisten Barenboim entsteht eine Ahnung davon, wie das Neue in die Welt kommt. Ein Aufbruch in die Zukunft wird möglich, wenn einzelne Menschen wie Barenboim und sein palästinensischer Freund Said aus der moralischen Macht ihrer Gewissenskräfte heraus Widerstand leisten und Verantwortung übernehmen. Barenboims Musikprojekt wird zum Urbild. Die Künstler überwinden die Enge ihrer nationalen und religiösen Zugehörigkeit und musizieren als Menschen miteinander. Als Ali vor den 420 Schülern der Klassen 1 bis 13 die Geige auspackt, um vor dem roten Bühnenvorhang des Festsaales Melodien aus dem jüdischen Kaddisch zu spielen, zeigt sich, was Menschen jenseits der Gewalt zusammenführen kann: die Kunst.

In der Selbstbewertung, mit der alle Mappen abgeschlossen werden, schreibt Anna-Maria über die Portfolio-Kultur: »Es ist unglaublich schön, andere Seiten an seinen Mitschülern zu entdecken, die durch eine normale Klassenarbeit nie sichtbar geworden wären. Durch die Portfolioarbeit kommt der Charakter eines Menschen besser zur Geltung«. Und sie lobt die »Chance, mich frei entfalten und entwickeln zu können«. Eine Rückmeldung, die nachdenklich macht. Brauchen wir nicht auch in den prüfungsorientierten Abschlussklassen mehr Angebote, eine »Wissenschaft für den ganzen Menschen« zu treiben, wie sie mir vor 30 Jahren ein erfahrener Waldorfpädagoge in Freiburg als Vision vor Augen stellte? So kann es vielleicht gelingen, dass unsere Schüler aus der Rolle des beziehungslosen Bildungstouristen herausfinden und wieder mehr zu Bürgern werden, die das Geschehen in der Schule wie in einer Polis nicht bloß erdulden, sondern mitgestalten.

Zum Autor: Holger Grebe ist Oberstufenlehrer für Deutsch und Geschichte an der Freien Waldorfschule Balingen. 2009 ist sein Essayband »Dem Zeitgeist auf der Spur. Geschichte – Literatur – Pädagogik. Studien und Projekte« erschienen (edition waldorf/ Stuttgart).

Literatur:

Susan Abulhawa: Während die Welt schlief, München 2013 | Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand, Frankfurt a. Main 2013

Film:

Knowledge is the Beginning. Daniel Barenboim und the West-Eastern Divan Orchestra. Dokumentationsfilm von Paul Smaczny (2005 als Produktion von EuroArts Music International in Zusammenarbeit mit ZDF und Arte entstanden)