Reiten als Schulsport

Gabriele Krebs

22 Drittklässler fahren mit dem Bus zur Reitschule Werthmann-Glaremin in Lühringsen. Dort warten siebzehn Ponies auf sie. Zunächst mit viel Hilfe, dann immer selbstständiger, werden die Tiere eingefangen, geputzt und gesattelt, bevor es dann in die Reithalle, auf den Außenplatz mit Geländehindernissen oder zum Ausritt geht. Nach dem Reiten werden die Ponies abgesattelt und die Trensen gesäubert. Sobald die Kinder alleine reiten können, wird die Klasse in zwei Gruppen geteilt. Die eine Gruppe reitet, die andere macht Stallarbeit. Danach geht es wieder mit dem Bus zurück zur Schule, wo dann im Klassenraum noch etwas Zeit für den theoretischen Teil des Faches bleibt.

»Wir haben einen Staubsaugerroboter«

Reiten ist ein Bewegungsfach. Das Besondere daran ist aber, dass man auf dem Pferderücken einem dreidimensionalen Bewegungsablauf ausgesetzt ist, der von einem anderen Lebewesen kommt und den der eigene Körper aufgreifen und ebenfalls in Bewegung umsetzen muss, wenn man nicht herunterfallen möchte. Dabei machen die Kinder ganz neue Bewegungserfahrungen, die mit keiner anderen Erfahrung aus dem Alltag vergleichbar sind. Es entstehen neue Bewegungsmuster, auf die das Kind bisher noch nicht zurückgreifen konnte. Man weiß aus der Neurobiologie, dass die Möglichkeiten für das intellektuelle Lernen um so reicher sind, je mehr Zellen durch Bewegungserfahrungen miteinander verknüpft werden.

Bei der kindlichen Bewegung lassen sich drei deutliche Entwicklungslinien erkennen: vom Rumpf zu den Extremitäten, über die Grobform zur Feinform und über Bewegung zur Haltung. Diese Grundsätze gelten auch bei der Entwicklung des Sitzes beim Reiter. Daher versuchen wir nicht, die Kinder auf dem Pony in eine bestimmte Form zu »pressen«, sondern regen Bewegung vielfältig an, so dass sich im Laufe der Zeit der Rumpf stabilisiert (über Bewegung zu Haltung), allmählich auch die Arme und Beine koordiniert werden (vom Rumpf zu den Extremitäten) und ganz zart die Grobform eines Reitersitzes ausgestaltet wird. Da die Kinder alle Ponies, mit einer Ausnahme, zur Schonung der Pferderücken mit Sattel reiten, können die Kinder die Pferdebewegung nicht unmittelbar spüren. Deshalb wollen wir für die Ponies Gurte mit Haltegriff und ein dickes Pad anschaffen, um die Kinder damit noch dichter ans Tier zu bringen.

Doch nicht nur die Reitbewegung ist für die Kinder eine Herausforderung. Die vielen Arbeiten auf dem Hof, das Tragen des Sattelzeugs, Putzen der Ponies, Säubern der Paddocks, Schieben der Schubkarren und vor allem das Fegen trainieren die Koordination und Kraft der Kinder. Die meisten Kinder wissen nicht, wie man einen Besen anfasst. Auf meine Äußerung, zu Hause hätten wohl alle nur Staub­sauger, kam die Antwort: »Nee, einen Staubsaugerroboter!« Nach etwa der Hälfte der Zeit können die Kinder nicht nur fegen, sondern mit dem Gerät so effektiv umgehen, dass die große Hoffläche nach ihrer Arbeit blitzeblank ist.

»Bäh, das stinkt!«

Ein weiterer Aspekt des Reitens ist die Pflege der Sinne. Das beginnt damit, dass wir bei jedem Wetter, also auch bei Eis, Schnee und Hitze, den Hof aufsuchen und uns stundenlang im Freien aufhalten. Die Reithalle ist zwar überdacht, hat aber keine festen Wände, sondern nur Windschutznetze, so dass Außentemperaturen herrschen. Die Ponies werden bei jedem Wetter draußen gesattelt und auch alle Arbeiten werden im Freien verrichtet. Die Ponies wechseln mit den Jahreszeiten ihr Haarkleid und die Kinder erleben sehr eindrücklich, wie ein Winterfell aussieht und vor allem, wie es sich in ein Sommerfell verwandelt.

Während dieses Übergangs sind die Ponyhaare überall: in Mund, Augen, Nase, Ohren und Pulli. Weiches Fell und weiche Mäuler werden berührt, harte, starre Gegenstände wie Mistgabeln und Besenstiele und auch Feuchtes. Gerüche aller Art umwehen die Kinder und die ersten Male auf dem Hof sind oft begleitet von Ausrufen wie: »Bäh, das stinkt!« Besondere Ablehnung ruft das Reinigen der Mundstücke der Trensen hervor, weil die Kinder das anfassen müssen, was das Pony im Maul gehabt hat. All diese Dinge werden später selbstverständlich – auch das Aufsammeln der Pferdeäpfel.

Das soziale Gefüge wird durcheinander gebracht

Zu Beginn des Reitjahres sind die Kinder stets zu zweit am Pony. Die Paare, die dabei entstehen, sind unabhängig von Freundschaften und Geschlecht. Wir richten uns nach der Größe der Ponies und suchen die Kinder aus, die zu dem Pony passen. Dabei wird das soziale Gefüge innerhalb der Klassengemeinschaft gründlich durcheinandergebracht. Manche Kinder beklagen sich bitterlich über ihren neuen Partner, lehnen ihn bisweilen rigoros ab. Dann kann es sinnvoll sein, die Pärchen nochmals zu wechseln, oder aber auch eine gewisse Konsequenz zu zeigen, da es um die Sache, nämlich das Reiten, geht und nicht um Sympathie oder Antipathie.

Überhaupt ist beim Reiten nicht unbedingt derjenige der Mutigste, der üblicherweise der Tonangebende der Klasse ist. Das erleben besonders die Jungen. Geschrei und wildes Gestikulieren wird vom Fluchttier Pferd, dessen Augen und Ohren hoch spezialisiert sind, nicht akzeptiert. Die Ponies stehen dann nicht still, gehen sogar weg und schlimmstenfalls wird auch gezwickt. So erfahren die Kinder unmittelbar, wie sich ihr Verhalten auswirkt. Ängstliche Kinder benötigen zunächst viel Unterstützung und das Vertrauen, dass die Reitlehrerin das Pony während des Trabens oder gar Galoppierens führt. – Später trauen sie diese Aufgabe dann auch dem Partnerkind zu und schließlich trauen sie sich selbst. Das ist immer eine große Freude und die Augen leuchten!

Steckenpferdprüfung

Alle Kinder beenden das Reiten im dritten Schuljahr mit dem Ablegen des ersten Abzeichens im Reitsport, dem Steckenpferd. Für diese kleine Prüfung, die sich in einen theoretischen und einen praktischen Teil gliedert und von einem externen Turnierrichter abgenommen wird, müssen die Kinder ein Basiswissen über Haltung, Fütterung und Pflege des Ponies haben; sie müssen in einer Abteilung selbstständig Hufschlagfiguren im Schritt und Trab reiten sowie einzeln galoppieren können. Manche Kinder bemerken erst während der Prüfung, besonders im theoretischen Teil, was sie alles gelernt haben und sind darüber erstaunt und dann sehr stolz auf ihre Leistung.

Die Jungs lehnen das Reiten oft ab

Nicht alle Kinder freuen sich über das neue Schulfach. Manche sind zunächst skeptisch, geben die ablehnende Haltung aber zunehmend auf und entwickeln schließlich mindestens eine tolerante Haltung, wenn nicht sogar Freude an der Beschäftigung mit dem Pferd. Manche aber, und das betrifft ausschließlich Jungen, lehnen das Reiten bis zum Schluss ab. Sollen nun diejenigen, die gar nicht reiten mögen, es trotzdem tun? Sollen sie gezwungen werden? Dies ist eine wichtige Frage, die sich immer wieder stellt.

Reiten bedeutet für viele Kinder erstmalig engen Kontakt zu Tieren. Es bedeutet, sich der Natur und dem bäuerlichen Umgang mit ihr zu nähern, was die Kinder ja auch während der Ackerbau-Epoche tun. Die Kinder wissen nicht, dass das gerade geschnittene Gras in Schwaden liegt, um es vor der Nachtfeuchtigkeit zu schützen und dass man damit nicht wild herumwerfen darf, da es zu Pferdefutter, nämlich Heu, werden soll.

Reiten lernen bedeutet auch, den Kulturpartner Pferd kennenzulernen, ohne den der Mensch noch vor kurzer Zeit gar nicht lebensfähig gewesen wäre. Bereits Xenophon (431-355 v. Chr.), ein griechischer Feldherr und Philosoph, entwickelte die erste Reitlehre, die noch heute maßgeblich ist. In früheren Zeiten hatten Frauen überhaupt keinen Zugang zum Pferd. Es war ausschließlich Männern (Herrschern, Rittern, Kriegern, Adeligen) vorbehalten und diente ihnen nicht nur zur Fortbewegung, sondern auch als Symbol ihrer Stärke und Macht.

Erst die Technisierung hat es möglich gemacht, alle Transporte, Feldarbeiten, Reisen und Kriege ohne das Pferd durchzuführen. Und sie hat andere Statussymbole, zum Beispiel das Auto, an die Stelle des Pferdes gesetzt. Heute fühlen sich interessanterweise Jungen und Männer vom Pferd weniger angezogen als Mädchen und Frauen. Letztere pflegen oft mit lebenslanger Leidenschaft die Beziehung zum Pferd, die ihnen Jahrhunderte lang vorenthalten wurde.

Dies und noch viel mehr ließe sich als Grund anführen, warum Reiten bei uns Schulfach sein darf.

Zur Autorin: Gabriele Krebs ist Mitglied der Gründungsinitiative der Soester Schule, wo sie als Schulsekretärin arbeitet. Sie ist Trainerin mit dem Schwerpunkt Jugendausbildung und hat in verschiedenen Pferdebetrieben für Anfänger und Fortgeschrittene unterrichtet.