Sexualkundig werden

Sönke Bohn

»… wer sich nicht auf die Liebe versteht, macht Krieg« [1]

Gehoben ist der Schatz dieser pädagogischen Aufgabe noch lange nicht. So wird zum Beispiel auf Klassenlehrerfortbildungen der Themenumkreis der psychosexuellen Entwicklung kaum besprochen. Oft findet ein Austausch oder gar eine vertiefende Auseinandersetzung ihr schnelles Ende, indem ausschließlich die Frage: Machen wir es selbst oder holen wir jemanden von außen, zum Beispiel von Pro Familia, erörtert wird.

Entgegen der sonst für selbstverständlich genommenen ganzheitlichen und nicht an reiner Wissensvermittlung orientierten Erziehungskunst steht im waldorfinternen Diskurs, vor allem dort, wo aktive Lehrer sich des Themas annehmen, Wissensvermittlung zum »eigentlich Sexuellen« im Vordergrund des Sexualkundeunterrichts, oft gar als Projekttag.

Angesiedelt wird die Sexualkunde oft als Untergebiet der Ernährungs- und Gesundheitslehre. Manchen Kollegen, wie z. B. Sven Saar [2], sehen den Zeitpunkt auch früher, anknüpfend an die Pflanzenkunde der sechsten Klasse.

Hier gibt es wunderbare Möglichkeiten, innerhalb der Naturkunde den Bogen der Vermehrung von den Pflanzen über die Tiere hin zum Menschen zu entwickeln. Der Faden, den Saar in seinem Unterrichtsmodell (Erziehungskunst 5/2005 und SiW) skizziert, ergibt sich recht selbstverständlich aus dem Lehrplan, bis hin zur Ansiedlung des Unterrichts in der sechsten Klasse. Auffallend ist die Koppelung der Unterrichte zur Sexualkunde an die Fortpflanzung, Sexualkunde als »Vermehrungskunde«.

Diesen Griff zusätzlich motivierend können Rudolf Steiners Ausführungen zur Ernährungslehre sein. Er plädiert dafür, dieses Lebensgebiet vor dem natürlich auftretenden egoistischen Interesse am Essen zu unterrichten, gerade wegen der Möglichkeit, es unbefangen, unegoistisch anzuschauen. Pädagogisch interessant könnte auch der Aspekt sein, zu erfahren, dass die Größeren eben wirklich Größere sind und die Jüngeren noch nicht alles können, zur Verfügung haben, die Aussicht, dass gewisse Verantwortungs-, Interessenbereiche erst noch entwickelt werden.

In Beiträgen zum Sexualkundeunterricht werden dann in den über das Naturkundliche hinausgehenden Betrachtungen verschiedene Gefährdungen angeführt [3]. Zunächst Gefährdungen leiblich-gesundheitlicher Art wie zum Beispiel der Übertragung von Krankheiten, HIV, Herpes oder Syphilis. Seit einigen Jahren kommt die Betrachtung von Gefährdungen der seelisch-sexuellen Entwicklung hinzu, wie sich durch das Internet - frei zugängliche harte Pornographie, Chatrooms etc. – ergeben. Fragen zur Vielfalt sexueller Orientierung oder auch entlegenerer Praktiken beschäftigen die Kinder und wollen behandelt werden. Nicht zuletzt sollen Missbrauchssituationen zur Sprache gebracht werden. Ein weiterer richtungsgebender Gesichtspunkt ist die Vermeidung ungewollter Schwangerschaften.

Die Identität stiftenden, das seelische Leben (Denken, Fühlen und Wollen in Leib, Seele und Geist) vertiefenden, zu besonderen Leistungen beflügelnden Qualitäten des sexuellen Lebens bleiben dabei mehr im Hintergrund - wenn sie nicht ganz außer Acht gelassen werden. Die im bildungsbürgerlichen Bereich unstrittigen und bis in die Raumausstattung und die Unterrichtsinhalte der Waldorfschulen zum Kanon gehörenden Renaissancemaler wie Raphael, Michelangelo, Botticelli oder Leonardo, aber auch Rembrandt mit seinen Verbindungen mit Saskia oder später Hendrikje Stoffels, Goethes zahlreiche Liebschaften oder seiner Schilderung einer sexuellen Initiation voll großer Wonne und etlicher biographischen Komplikationen in dem »Erziehungsroman« Wilhelm Meister böten hier ergiebige Anregung. Unsere Märchenbilder bergen eine Fülle von Geschichten, in denen um der Liebe willen größte Plagen und Gefährdungen angenommen werden, selten mit Belohnungen, die geringer als ein halbes Königreich ausfallen.

Im Hinblick auf die Sexualkunde kann das für die Erziehenden, insbesondere in der Begegnung mit 11- bis 15-Jährigen heißen: Erwäge die Chancen, die möglichen Perspektiven nicht weniger als die Risiken, suche für das Motto »Angstfrei leben, selbstbewusst handeln« [4] die für Erziehung und Unterricht passenden Gesichtspunkte, Themen und Methoden.

Intention der folgenden Ausführungen ist es, die Idee einer gedeihlichen psychosexuellen Entwicklung in den Fokus der pädagogisch motivierten Aufmerksamkeit zu stellen.

Die verantwortliche Begleitung der psychosexuellen Entwicklung geht weit über den speziellen Unterricht hinaus. Die Bildung einer sexuellen Identität durchzieht weite, wahrscheinlich alle Lebensgebiete und Begegnungssituationen und mit hoher Wahrscheinlichkeit alle Unterrichte.

Was verstehen wir unter Sexualität und womit haben wir es bei der Sexualität zu tun? Der Deutsche Duden – das Fremdwörterlexikon (!) erklärt es uns folgendermaßen: »Gesamtheit der im Sexus begründeten Lebensäußerungen«.

Der Bereich hinter der Vermehrung scheint zunächst diffus – oder offen. Sexualität scheint so verlockend wie gefährlich zu sein, etwas zwischen Himmel und Hölle, mit großem Potenzial zu beidem und allem, was dazwischen liegen mag. Sexualität entzieht sich der festklopfenden Definition, da sie offen, wandelbar, vielfältig, langweilig oder zauberhaft sein kann, »Sie ist das, was wir aus ihr machen«.[5]

Nun kann es also in der Pädagogik nicht darum gehen, hier zu inhaltlichen Festlegungen z.B. in der sexuellen Orientierung zu erziehen (was zudem vergeblich wäre), sondern die psychophysischen Grundlagen für eine gedeihliche Entwicklung der sich findenden, gestaltenden Identität zu gewährleisten.  

Da ist unsere Leiblichkeit, an der wir uns - wie alle lebenden, empfindenden Wesen, im Idealfall »freudig wärmen«. Sie gedeiht in einem permanenten Wechselspiel äußerer und innerer sinnlicher wie seelischer und selbst geistiger Eindrücke. Die Natur oder Künstlichkeit der Sinneseindrücke, der Empfindungen, der umgebenden Emotionen, Gesinnungen und Haltungen durchspielen den bildsamen Leib des Kleinkinds.

Die Bedeutung und Wertschätzung der Reifung der »unteren Sinne«: des Tastsinns, des Behagen und Unbehagen vermittelnden Lebenssinns, des Eigenbewegungssinns und des Wärmeempfindens für die Entwicklung steht bei vielen waldorforientierten Betrachtungen zur frühkindlichen Entwicklung im Vordergrund. Intensive Leibeserlebnisse beginnen mindestens mit der Geburt, der Drang, den eigenen Leib zu erkunden und zu ergreifen, bedarf keiner Anleitung, sondern ist dem Menschen angeboren. Es ist ja auf dem Weg sich zu verkörpern. Lassen wir das Kind gewähren, bestätigen wir es in seinem Erkundungsdrang oder unterbinden wir ihn? Welche Haltung zu Doktorspielen oder Experimenten unter der Decke wird im waldorfpädagogischen Kontext propagiert? Ist das sanfte Gegensteuern das einzige Mittel der Wahl? [6]

Etliche Darstellungen vermitteln den Eindruck, als wäre dann im Weiteren das Verhältnis zum eigenen Leib vornehmlich problematisch. »Die interessierte Hinwendung zur Welt statt zum eigenen Leib« wird verschiedentlich als »Lösung« des »Problems« des sexuellen Interesses verstanden. (SiW)

Das tief befriedigende und unendlich bereichernde Interesse an der Welt soll nun gar nicht in Abrede gestellt werden, doch scheint es kurz gegriffen, den eigenen Leib und die Entwicklung im Sexuellen mit all ihren Fragen der Beziehungsfähigkeit nicht als Teil dieses Weltinteresses zu erkennen.

Die Waldorfpädagogik hat den vielfältig begründeten, formulierten Anspruch den »Leib als Instrument der Seele« auszubilden - ein mindestens dreifaches Instrument: Messinstrument, Wahrnehmungsschärfer und Werkzeug. Es ist von Interesse, was man aus so einem Instrument herausholen kann. Man möchte seine Funktionsweise, aber auch seine Möglichkeiten kennen, auch die Sensationellen. Wenn das kleine Kind »ganz Sinnesorgan« ist, kann man von ihm nicht verlangen, wenige Jahre später seinen Leib aus der Interessen– und Wahrnehmungssphäre herauszulösen. 

Vielfältig sind die Übungen und Möglichkeiten, die Selbstbemächtigung des Leibes zu fördern: rhythmische Übungen, Geschicklichkeitsübungen, Körpergeographie (zu denen bitte auch die Geschlechtsorgane gehören!), Plastizieren, Überkreuzübungen, Singen, Spielen, Sprechen, alle Arbeitsbewegungen und was nicht alles. Dennoch ist es allein damit nicht getan.

Wird ein Erlebnis charakterisiert, leise ins Bewusstsein gehoben, lernt das Kind (jeder werdende Mensch, welchen Alters auch immer) durchseelt wahrzunehmen. Es übt seelische Aufmerksamkeit, lässt sich von dem belehren, was es durch die Sinne erfährt. Es übt, der Welt ästhetisch gegenüber zu stehen. Es genießt, erlebt, wertet - und entwickelt darin Werte, schön – hässlich; angenehm – unangenehm; anregend – entspannend; lebendig – öde; mit Liebe ausgeführt – lieblos/gleichgültig; wahrhaftig – gelogen.

Der künstlerische Anspruch der Waldorfpädagogik lebt sich nicht allein im Tun, Tun und nochmals Tun aus, sondern auch im Den-Nachklang-Erleben, Genießen. Vertiefen der Erlebnisfähigkeit ist auch Teil der psychosexuellen Entwicklung. Wie wirkt dieses oder jenes auf mich?

Die Essensausgabe auf der Klassenfahrt: Wie lieblos hier, wie aufmerksam zuhause in der Schulküche. Wie das aufs allgemeine Wohlgefühl zurückwirkt ... Was es dann ausmacht, der im Trott gefangenen älteren Dame dennoch ganz freundlich zu danken – wie sich rasch Wärme einstellt,  ein kleines Aufwachen ergibt.

Mein Leiblich-Seelisches vermittelt mir einen Eindruck, den schau ich mir in Ruhe an, er sei so oder so. Ich lasse ihn zum Erlebnis kommen, »lese« ihn – werte ihn aus und übernehme die Initiative für eigenes Tun: grenze mich ab, mische mich ein, gehe beiseite, bestätige, rege mich auf.

Polizeiliche Präventionsberatungen für Jugendliche in Grenzsituationen weisen immer auf das kluge Bauchgefühl hin: Hört auf diese Stimme, verbindet euch oder grenzt euch ab, Natascha Kampuschs Bauchgefühl [7] ermunterte, ja drängte sie, die Straßenseite zu wechseln, als ihr Entführer seinen Wagen vor ihr anhielt. Sie tat es nicht. Naomi Wolf konnte die Bedrohung lesen und sich in Sicherheit bringen. [8]

Das Resonanzorgan für Hellfühligkeit, von Gefahren, wie von kleinen, schönen Wundern ist der eigene Leib, Auf ihn hören zu können ist Gewinn in der psychosexuellen Entwicklung, ist Grundlage der persönlichen Gestaltung des Beziehungslebens.

Diese positive Seelenfähigkeit ist zugleich die präventiv wirkende. Künstlerische Erlebnisfähigkeit, erleben können, fühlen können, dem Ausdruck, Gestaltung geben können, gibt in der Summe Selbst-Bewusstsein. Das Liebesleben des Menschen ist die Domäne dieser Seelenfähigkeit: lebenslanges Lernen, ständiges Entdecken und Vertiefen, Kreativität und Erlebnisfähigkeit, Wahrhaftigkeit, Achtsamkeit und Respekt vor dem, schöner: mit dem Gegenüber, Hingabe und Selbstbehauptung, der eigene Leib, der Seelenkraft nicht entfremdet, sondern von ihr durchdrungen.

Auch die Sprache gehört in diesem Sinne zum eigenen Leib. Die allen bekannte Gossensprache wie auch die klinische/medizinische Benennung tragen Atmosphäre. In Anknüpfung an die Aufgabe, fremde Kulturen zum Erlebnis zu bringen, besteht die Möglichkeit anderer Kulturen Worte für die Geschlechtsteile aufzuzeigen. Der poetische Ausdruck wirkt hier öffnend, bereichernd.  Der »Jadestab« oder das »goldene Horn«, die »aufblühende Pfingstrose« oder die »empfangende Vase« [9] drücken unmittelbar Wertschätzung aus. Der Stolz, so etwas Schönes anvertraut bekommen zu haben ist eine gute Kraft.  

Der spezielle Sexualkundeunterricht wäre dann der notwenige Beitrag zur Orientierung, aber weder ein Höhe- noch ein Knotenpunkt innerhalb der psychosexuellen Entwicklung, denn diese findet ständig und jederzeit statt. So ist das mit dem Gedeihen, mit Entwicklungen, sie kennen neue Impulse, Wendungen, kennen aber keine Lücken. Das nötige Rüstzeug zum Umgang mit Menschen, Gefühlen, überwältigendes Glück oder herbe Enttäuschung aushalten, ertragen können, lässt sich lernen, lehren. Ein Kind, das mit der Launenhaftigkeit und Zickigkeit einer Katze, die mal schmeichelnd-schnurrig, mal abweisend und widerspenstig oder schlicht ignorant ist, umzugehen gelernt hat, hat auch für sein Liebesbeziehungsleben etwas gelernt.

Neu in der Diskussion ist die Frage der sexuellen Vielfalt. Da gibt es etliche Missverständnisse und Ängste. Planen lässt sich im Bereich der Liebe wenig. Weder in der Frage der sexuellen Orientierung noch der sexuellen Identität.

Es gibt die Kinder, die schon dadurch in Not kommen, wenn Gruppen in Jungen und Mädchen aufgeteilt werden, Jungen, die einfach sinnliche Freude an »femininen Attributen« haben, an Kettchen, Nagellack, hohen Schuhen. Auch das könnte man achten, ohne das Gefüge des Abendlandss bedroht zu sehen. Die Sexualisierung solcher Neigungen ist das Problem der (V)Erwachsenengesellschaft, nicht unbedingt der experimentierenden Kinder oder Jugendlichen.

Bei einem Schulbesuch wurde die Kalamität dargestellt, dass da ein (achtjähriges) Mädchen sei, das in der Schule gerne mit einem Jungennamen angesprochen werden möchte, Kleider und Röcke strikt ablehne und alles dafür tue, in die Jungenrolle eintauchen zu können. Der Lehrer fand sich nun in dem Zwiespalt, von den Eltern des Kindes dahingehend beauftragt zu werden, genau das zu verhindern und das Kind mit aller Konsequenz als Mädchen anzusprechen.

Da ist das überdenkenswerte Lob der Lehrerin über den schönen, farbigen Nagellack der Fünftklässlerin- (»Du bist ja schon eine richtige Dame…«) oder auch die Mutter, die auf dem Elternabend von ihrem gerne raufenden und etwas rüpelhaftem Drittklässler sagt, er sei halt ein richtiger Junge.

Gender-Mainstreaming [10] ist hier zunächst einmal eine Anregung, eingefahrene Rollenbilder und Typisierungen in Frage zu stellen. Hier geht es nicht vorrangig ums Lernen, sondern ums Verlernen. Auch Verlernen will gelernt sein und ist gewiss eine in Beziehungen hilfreiche Fähigkeit. Vielleicht schafft gerade die vermeintliche Eindeutigkeit Identitätsprobleme. Es gibt Gesprächsbedarf.

Die Frage nach der sexualkulturellen Vielfalt stupst Kinder nicht in die Beliebigkeit besonders »unbefangener« Grenzüberschreitungen, sondern möchte innerhalb der Grundregeln (Einvernehmlichkeit, Achtung der eigenen wie auch fremder seelischer und körperlicher Gesundheit, Verantwortungsbereitschaft …) den Weg von der Norm und dem Standard zu der individuellen, verantwortungsvollen, vertrauten, rollenentfixierten und farbenreichen Beziehung, angstfrei und selbstbewusst, bahnen. Sie ist von emanzipatorischen und Freiheitsmotiven geleitet. Ihre Absicht ist es nicht, desorientierend zu wirken, sondern im Vertrauen auf das Menschliche im Menschen diesem Entfaltungsmöglichkeiten zu eröffnen. Auch in der Vielfalt geht es um Identität. Identität lebt jedoch nicht in Dinglichkeiten, Inhalten, sondern in der Kraft der Integration, der Ordnung, des inneren Platzanweisens und Gestaltgebens. Es ist doch die Frage: Erkenne ich, würdige ich wen und wie ich liebe? Aussuchen kann ich es mir nicht.

Nun wurde in diesen Ausführungen wenig von oder über Rudolf Steiner geschrieben. Das soll nun zum Ende nachgereicht werden, denn anregend ist das nun Folgende allemal. 

Da ist bemerkenswert, was R. Steiner in einem Vortrag (vor den Arbeitern am Goetheanum über den Sephirotbaum, alte jüdische Weisheit) zu »Hod« erläutert. »Was beim Menschen auch die Fortpflanzung hervorbringt, was also mit der Sexualität zusammenhängt, das nannten die alten Juden Hod. Wir würden es heute bezeichnen mit dem Worte, das etwa ausdrücken würde Mitgefühl. Sie sehen, die Ausdrücke werden schon menschlicher«. [11]

Quergedacht hat auch die Eurythmie Etliches zu diesem Thema beizutragen. Sie geht doch deutlich über das Namen-Tanzen hinaus. Rudolf Steiner spricht im Heileurythmiekurs [12] davon, dass nur die empfundene Bewegung eine eurythmische Bewegung sei. Einfach mal so drauflos bewegt, auch auf eurythmischen Formen oder in eurythmischer Gebärde, wäre also nicht besonders eurythmisch. »Dasjenige, was in der Eurythmie das Wesentliche ist und wodurch auch für die Kunsteurythmie das Wesentliche bewirkt wird, das ist nicht bloß die von außen angeschaute Form des gestellten Gliedes (es geht um Arme und Beine!), sondern es ist dasjenige, was zustande kommt, wenn in dem gestellten Gliede die Streckung des Gliedes (dito) oder die Beugung des Gliedes gefühlt wird. Das in dem Gliede Gefühlte ist es, worauf es ankommt.«Archiv

Die eurythmische Bewegung ist sowohl Ausdruck wie auch empfundener Eindruck. Da sind zum Beispiel gespannt und gelöst Qualitäten, die durch den Leib, die feingestimmten Sinne, empfunden werden. Dieses wahrnehmen und steuern, »führen« bringt die Seele in eine besondere Haltung dem eigenen Leib gegenüber, wahrnehmend, achtsam, lauschend und in diesem dann vertiefend hingegeben, das Erlebnis verstärkend oder auch korrigierend.  

Bemerkenswert, dass gerade ab der siebten Klasse das Dur- und Mollerlebnis im Unterricht nahegebracht werden soll.

Im ersten Vortrag des Toneurythmiekurses [13] spricht R. Steiner davon, wie sowohl in der Lautempfindung des A und E wie auch dem musikalischen Erlebnis des Molls ein besonderes Gewahrwerden des physischen Leibes erlebt wird. »Sie senken ihren astralischen Leib in den physischen Leib hinein. Das bedeutet Wohlbefinden. Das ist wirklich so, wie wenn sie ihren astralischen Leib wie perlenden Wein, der durch die Glieder fließt, empfinden würden. Was tritt aus diesem physischen Leib zutage? ... das Wohlbefinden.« Im »E« kommt ein anderer Aspekt des Ergreifens des physischen Leibes durch den Astralleib zutage. »Sie wollen sich aufrecht erhalten gegenüber der Umgebung. ... Da erhöhen sie die Intensität ihres Daseins. .. »Das Aus-sich-selbst-stellen gegen ein anderes, das ist im E«. Dieses Erlebnis, musikalisch dargestellt, ist das Moll-Erlebnis. »Das Moll-Erlebnis ist immer ein In-sich-Zurückgehen mit seinem Geistig-Seelischen, ein Ergreifen seines Leiblichen durch das Geistig-Seelische.«

Das Dur-Erlebnis, verwandt mit der Lautempfindung des O und U. »Beim O kommt es darauf an, dass sie wachend einschlafen, indem sie ihr ganzes Sein herausspazieren lassen in denjenigen Raum, den sie mit der O-Geste umschließen.« Steiners Beispiel ist der Baum: »Ich trete an den Baum heran, ich umschließe diesen Baum mit den Armen, aber ich bin selbst dieser Baum. Ich bin ein Baumgeist, eine Baumseele geworden ... weil ich eins geworden bin mit dem Baum, mache ich diese Geste. Ich gehe aus mir heraus. Das, worauf es mir ankommt, ist in meinen Armen … Es ist ein deutliches Herausgehen des Seelischen aus dem Leibe. Im O und U geht man eigentlich mit dem Seelischen in das Seelische hinein. Das musikalische Erlebnis bei diesem Herausgehen aus sich selber ist im umfassendsten Sinne das Dur-Erlebnis«Archiv

In diesen beiden eurythmischen Bereichen wird also das Gewahrwerden und das Aufrechterhalten des eigene Leibes gelernt und vertieft, im Wechsel mit der Befähigung aus sich herauszugehen, mit dem eigenen geistig-seelischen in das Gegenüber, die Welt einzutauchen. Beides, so die These, sind auch die grundlegenden Fähigkeiten der erfüllten Liebe. Liebe fordert diesen Pendelschlag.

Die Rettung der Seele wird ohne Berücksichtigung des Leibes nicht gelingen können.

»Es gibt nur einen Tempel in der Welt und das ist der menschliche Körper, nichts ist heiliger als diese hohe Gestalt. Das Bücken vor Menschen ist eine Huldigung dieser Offenbarung im Fleisch. (Göttliche Verehrung des Lingam, des Busens, der Statuen) Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschenleib betastet.« [14]

Während dieser Beitrag geschrieben wurde, erschien in der Süddeutsche Zeitung (11/12 Oktober 2014) ein Artikel über zwei junge, 15 und 16 Jahre alte, ziemlich normale Teenager-Mädchen aus Wien, die ihren Weg aus der Welt der nichtexistenziellen Zugehörigkeiten (Familie, Schule, Peers) bis hin nach Syrien, in den Jihad des Kalifatstaats, gegangen sind. Im Frieden fanden sie keine Perspektive, keine Sinnhaftigkeit.

Zum Autor: Sönke Bohn ist Klassenlehrer der 8. Klasse der Freien Waldorfschule Berlin-Mitte.

Anmerkungen:

[1] Stein der Geduld, Atiq Rahimi, List Verlag 2013 S. 138

[2] »Sexualkunde in der Waldorfpädagogik«, (SiW) Edition Waldorf , Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschule, Stuttgart 2006

[3] So z.B. in der Ankündigung zum elften Bildungskongress 2014 in Stuttgart: Liebe und Sexualität – wie entwickeln sie sich in Kindheit und Jugend, und welchen Gefährdungen unterliegt diese Entwicklung heute. Oder: Love und Sex = Durex  In dieser Broschüre wirst du viel über Verhütung lesen …

[4] Waldorfschule Angstfrei lernen, selbstbewusst handeln,  Christoph Lindenberg, Rowohlt 1989

[5] Avodah Offitt »Das sexuelle Ich« nach Sonja Blattmann: Nur die Liebe fehlt …? Jugend zwischen Blümchensex und Hardcore mebes & noack 2010

»Sexualität ist das, was wir aus ihr machen: eine teure oder billige Ware, Mittel der Fortpflanzung, Abwehr der Einsamkeit, eine Kommunikationsform, eine Waffe der Aggression, Herrschaft, Macht, Strafe, Unterwerfung, ein Sport, Liebe, Kunst, Schönheit, ein idealer Zustand, das Böse, das Gute, Luxus, Entspannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbstachtung, ein Ausdruck der Zuneigung, eine Art Rebellion, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen, Vereinigung mit dem All, mystische Ektase, indirekter Todeswunsch oder Todeserleben, ein Weg zum Frieden, eine juristische Streitsache, eine Art, menschliches Neuland zu erkunden, eine Technik, eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer Krankheit oder Gesundheit oder einfach eine sinnliche Erfahrung«

[6] SiW E. Leipold S.168

[7] 3960 Tage, Natascha Kampusch, Ullstein-Verlag 2014 S. 40-46

[8]  Vom Ende der Unschuld, Naomi Wolf,  Rowohlt 1999 S.75 ff

[9] Vom Ende der Unschuld, Naomi Wolf,  Rowohlt 1999 S.302 ff

[10] Dazu: Holger Niederhausen in der Erziehungskunst 9/2014 als Leserbrief auf Valentin Hacken 5/2014

[11] Die Geschichte der Menschheit, Rudolf Steiner GA 353 Dornach 1992  10. Mai 1924

[12] Heileurythmie R. Steiner GA 315 Dornach 1981 12. April 1921

[13] Eurythmie als sichtbarer Gesang,  R. Steiner GA 278 19.& 20. Februar 1924

[14]  Novalis Werke, Fragmente und Studien, Beck-Verlag o.J