Verschiebungen in der Oberstufe. Die Geologie-Epoche lehrt Neuntklässler das Staunen

Andreas Busch

Während der Unter- und Mittelstufenzeit entwickelt das Kind seine Neigungen und Gewohnheiten. Die persönlichen Charakterzüge, das Temperament, treten deutlich hervor, das Gewissen bildet sich aus, ebenso das Gedächtnis. Der Erzieher unterstützt diesen Prozess mit den entsprechenden Methoden und Inhalten, die in der Klassenlehrerzeit Anwendung finden. Er hilft dabei durch Gleichnisse und Sinnbilder, durch sein Beispiel und durch das geregelte Lenken der kindlichen Phantasie. Das Kind orientiert sich an ihm, die gewünschten intellektuellen und moralischen Kräfte werden geweckt. Das Denken tritt noch zurück. Es spielt höchstens eine vermittelnde, vergleichende Rolle. Es muss sich wie unbeeinflusst selbst entwickeln. Die Gesetze des Lebens dürfen in dieser Phase nur symbolisch aufgenommen werden. Es entwickelt sich zuerst eine mannigfaltige und reichhaltige Gefühlswelt. Der Schönheitssinn wird gepflegt. Das Gefühl für das Künstlerische wird wachgerufen. Das Kind entwickelt Achtung und Ehrfurcht vor dem, was andere gedacht haben. Damit wächst das Denken heran; damit reift die Urteilskraft so, dass der Mensch sich den Dingen des Lebens und des Wissens gegenüber in voller Selbstständigkeit seine Meinung bilden kann.

In der Oberstufe dann ist der Jugendliche in der Lage, sich die Vorstellungswelt denkend zu eigen zu machen und sie zu beurteilen. Mit Hilfe der Fachlehrer, die einen breiten interessanten Fächerkanon unterrichten, lernt der junge Mensch die Gesetzmäßigkeiten kennen, die der Welt zugrunde liegen.

Geologie zügelt das Denken

In der Waldorfschule Rostock steht die Geologie-Epoche am Anfang der 9. Klasse. Denkkraft und Urteilsfähigkeit sind in diesem Alter voll erwacht. Sie fordern Nahrung und Betätigungsmöglichkeiten in Form von Aufgaben, die durch die Anwendung von Vernunft und Logik zu lösen sind. Die müssen jetzt kommen. Doch dafür braucht es Orientierung. Wir alle wissen, wie schnell ein Urteil, angestachelt durch Gefühle, gefällt ist. Mag das eigene Denken sich durchaus auf das Wahrgenommene beziehen, schnell ist es von eigenen Vorstellungen beeinflusst. Man muss üben, sich nur durch Beobachtung einem Phänomen zuzuwenden. Das Denken muss aktiv gezügelt werden, und zwar so lange, bis die Wahrnehmung das Phänomen voll erfasst hat. Der Jugendliche lernt, dass sich nur durch gründliche Beobachtung exakte und folgerichtige, dem Phänomen angemessene Begriffe ableiten lassen. Eigentlich ist er auf eine umfassende Beobachtung vorbereitet, denn das war eines der Hauptanliegen der Klassenlehrerzeit. Nur scheint er durch die vielen Entwicklungsprozesse, die er in dieser Zeit durchläuft, ein wenig blind für genaue Beobachtungen zu werden. Der Lehrer, der dem Schüler neuen Stoff vermittelt, achtet darauf, dass der Schüler den Weg der Erkenntnisgewinnung seriös beschreitet. Er gibt auch Antworten, aber verhilft darüber hinaus jenen inneren Kräften zur Entfaltung, mit denen sich der junge Mensch selber willentlich auf den Erkenntnisweg begeben kann.

Was treibt die Platten?

Die Geologie-Epoche bietet dafür eine Menge Möglichkeiten. Geologische Prozesse sind räumlich und zeitlich für Menschen kaum vorstellbar. Um so größer ist die Herausforderung, sich die geologischen Phänomene mit dem Verstand denkend zu erschließen. Und um so größer sind Freude und Stolz, wenn man zu Erkenntnissen gelangt ist, die den wissenschaftlichen nahekommen oder gar entsprechen. Jeder Schüler kennt die physische Weltkarte. Die ausgeschnittenen Kontinente regen zum Puzzlen an. Zwangsläufig ergibt sich ein Bild mit einem Riesenkontinent; genauso zwingend drängen sich ihm die Fragen auf, ob die Erde einst tatsächlich so ausgesehen hat und wie das heutige Bild entstehen konnte. Wohlgemerkt – wir sind immer noch im Bereich der Bilder.

Der Lehrer kann nun Gleichnisse aus dem Erfahrungsschatz der Schüler heranziehen und fragen, was denn zum Beispiel mit zerbrochenem Eis auf einem See passiert, wenn genug Freiwasser vorhanden ist und wenn der Wind weht … Schnell ist klar, dass die Schollen driften – damit ist ohne Stoffdruck der Begriff »Kontinentalverschiebung« da. Automatisch fragen sich die Schüler selbst, was denn die treibende Kraft auf der Erde ist, die, wie es der Wind mit dem Eis getan hat, Entsprechendes mit den Kontinenten bewirkte. Und das ist nun spannend, denn jetzt herrscht Erklärungsnotstand.

Wir versuchen, uns vorzustellen, wie die Erde denn aussehen müsste, wenn tatsächlich die Kontinente auf flüssigem Untergrund so driften würden wie Eis auf Wasser. Schnell wird klar, dass die Erdkarte Dinge zeigt, die dann nicht so sein dürften – zum Beispiel die Mittelozeanischen Rücken.

Erinnern wir uns: Während der Klassenlehrerzeit wurden die Beobachtungen verglichen und gedeutet. Der Verstand spielte hierfür nur eine vermittelnde Rolle. Nun, in der Oberstufe, ist die Zeit gekommen, wo er die Phänomene nach ausreichender Beobachtung verstehend durchdringen muss, so dass zuletzt ein Naturgesetz als eine Erkenntnis aufleuchtet.

Den Schülern ist klar, dass beim Verdriften die Ränder der Kontinente die Zonen sind, wo sich mit großer Wahrscheinlichkeit die Ursachen für die Bewegungen finden lassen und wo es Erdbeben und Vulkanausbrüche gibt. Aber aus Epochen der Mittelstufe, aus Geschichten und aus der Betrachtung der Weltkarte wird deutlich, dass das nicht so ist. Ja, der Schüler findet viele Beispiele dafür, dass an den Berührungslinien zwischen Kontinenten und Meeresböden keine geotektonischen Prozesse stattfinden. Das heißt doch, dass ein Kontinent auch zusammen mit Meeresboden als eine Einheit bewegt werden kann, wenn beide also gemeinsam auf einer größeren Platte liegen. Damit hat sich der Plattenbegriff wie von selbst eingeführt. Die Neugierde der Schüler ist jetzt auf einem Höhepunkt. Wie soll man nun mit Hilfe dieses neuen Faktums das Antlitz der Erde erklären können? Wo soll der Antrieb zu suchen sein?

Auch hier kann man wieder mit einfachen Versuchen zur  Wärmeströmung über die Beobachtung und das Gefühl das Verstehen anregen und zum Verständnis kommen. Letztlich steht als Ergebnis da, dass die zur Abkühlung der Erde führende Wärmekonvektion die Bewegung der Platten verursacht. Und damit hat man den Schlüsselprozess erfasst, der sich allerdings nicht so ohne Weiteres in einer Formel ausdrücken lässt. Dabei bleibt unberührt, dass diese Vorgänge selbst in der naturwissenschaftlichen Forschung noch nicht vollständig geklärt sind. Doch darum geht es nicht; es geht vielmehr um den Weg, den die Schüler mit Hilfe des Lehrers gehen.

Zum Autor: Dr. Andreas Busch, Diplombiologe, promovierte und forschte im Bereich Meeresbiologie/Zoologie/Ökologie, heute Oberstufenlehrer in den Fächern Biologie, Chemie und Geographie an der Waldorfschule Rostock.