Vom Vakuum zur Umweltbilanz

Christoph Köhler

In der Physik-Epoche möchte ich das Denken in den Kontext der Probleme der heutigen Welt stellen. Es sind Probleme, die dadurch entstanden sind, dass der Mensch aus dem Denken heraus Technik entwickelte, ohne die zugehörige soziale und ökologische Verantwortung dafür zu übernehmen. Technik soll der Gesellschaft dienen. Wirtschaftliche, soziale, ökologische und gesellschaftliche Folgen von Technik müssen mit den Schülern ausführlich diskutiert und Positivbeispiele für eine an den Bedürfnissen der Gesellschaft entwickelte Technik sollen gezeigt werden. Auch diese Schwerpunktsetzung entspricht dem Entwicklungsstand eines Neuntklässlers. Denn gerade in dieser Klassenstufe soll Weltinteresse geweckt werden, auch um die starke Egozentrik der Spätpubertät zu überwinden.

Das Thema der 9. Klasse ist der Idealismus. Es geht um Ideen, die zur Wirklichkeit werden oder an der Realität scheitern, aber auch darum, Ideale zu entwickeln, wie die Gesellschaft aussehen könnte und sich mit der gewordenen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Das ist in anderen Fächern (Deutsch, Geschichte) ein wichtiger Gesichtspunkt und auch die Physik-Epoche bietet sich mit dem Thema Kraftmaschinen dazu an, dieses Spannungsfeld zwischen Ideal und Realität technisch, historisch und gesellschaftlich aufzurollen und die Rolle des Einzelnen dabei zu überdenken.

Die dreiwöchige Physik-Epoche gliedert sich in drei Bereiche:

• Luftdruck – Vakuum – Siedepunktserhöhung

• Niederdruckdampfmaschinen – Auswirkungen auf die Umwelt – Rebound Effekt – Hochdruckdampfmaschinen – Industrielle Revolution – Arbeitsbedingungen damals und heute – Patente

• Dampfturbinen – Kohlekraftwerke – Umweltauswirkungen – Technischer Umweltschutz und seine Grenzen – Bewusster Umgang mit Energie

Wenn mir eine vierte Epochenwoche zur Verfügung steht, ergänze ich die Epoche noch um das Thema:

• Verbrennungsmotoren und ihre Umweltauswirkungen – Katalysatoren – Wasserstoffmotor – Grenzen der Mobilität – Stirlingmotor und dessen Verwendung – Wärmepumpen.

Das Phänomen des Vakuums

Das Thema Vakuum lässt sich mit folgendem Versuch erforschen: Eine 60 x 40 cm große Holzplatte wird auf den Boden gelegt. Die Ränder werden mit Zeitungspapier abgedeckt. Durch zwei zentrale Bohrungen in der Platte wurde zuvor zweifach Blumendraht geführt und ein Karabiner eingehängt. Bei einem schnellen, senkrechten Anziehen des Karabiners reißt der Blumendraht. Dieser Versuch verblüfft zunächst. Was ist passiert? Bei den ersten Erklärungsversuchen taucht schnell der Begriff Vakuum auf. Aber was ist Vakuum – oder Unterdruck, was das Phänomen nur auf andere Weise beschreibt? Ich habe doch nicht Luft ausgesaugt. Ein langsames Anziehen der Platte ist möglich. Die Zeitungsabdeckung wird in diesem Fall unter das Brett gedrückt. Ein schnelles, schräges Anziehen der Platte ist auch möglich, nur dass dann der Draht nicht reißt. Warum ist das Vakuum nur bei senkrechtem Anziehen wirksam? Noch mehr verwirrt der Bierdeckelversuch. Ein volles Wasserglas wird mit einem Bierdeckel verschlossen und umgedreht. Der Bierdeckel hält. Er hält auch dann, wenn man das Glas schüttelt, schräg hält und schüttelt, ja selbst dann, wenn das Glas nur zu einem Drittel voll ist. Der Begriff des Vakuums scheint als Erklärungsversuch nicht zu taugen, obwohl es doch der richtige ist, wie wir als Physiklehrer wissen. Aber warum? Weil er nicht mit Leben gefüllt ist! Weil es nicht reicht, Schlagworte anzuführen, statt Zusammenhänge verständlich zu machen.

Darum geht es in der ersten Epochenwoche: Versuche in ihrer Vielschichtigkeit erst zu beschreiben und dann zu deuten. Jeder Aspekt eines Versuches, der mit verschiedenen Veränderungen immer wieder durchgeführt wird, muss erfasst werden und mit einer einheitlichen Hypothese erklärt werden können. Und diese Hypothese beweist ihre Stichhaltigkeit dadurch, dass recht unterschiedlich anmutende Versuche ohne weitere Zusatzannahmen damit auch erklärt werden können.

Weitere Experimente zur Entstehung von Vakuum durch Abkühlung und/oder Kondensation runden das Bild ab. In der selben Weise wird die Siedepunktserhöhung unter Druck behandelt. Der Zusammenhang zwischen Druck und Temperatur kann mit einem Schnellkochtopf mit eingebautem Thermometer und Barometer experimentell dargestellt werden. Mit den gewonnen Erkenntnissen kann auch verstanden werden, warum Wasser unter Vakuum bei Handwärme zu kochen anfängt. Jetzt kann sogar der Modellversuch zur Funktionsweise eines Geysirs gedeutet und die Verbindung zu den Geysiren in der Wirklichkeit hergestellt werden.

Schüler entwickeln eine eigene Kraftmaschine

Ihre Kenntnisse über Druck, das Vakuum, das Ausdehnungsverhalten von Gasen und die Siedepunktserhöhung sollen die Schüler in Gruppenarbeit dazu nutzen, eine eigene Kraftmaschine auf dem Papier zu entwickeln. Als Lehrer kontrolliere ich die Arbeiten und gebe immer wieder die Rückmeldung, was die Maschine, wenn man sie bauen würde, wohl anstellen würde. Dann sind die Schüler wieder an der Reihe, für die von mir angesprochenen Probleme oder Ineffizienzen Lösungen zu finden. Es ist durchaus erstaunlich, dass in den meisten der von mir in dieser Weise unterrichteten Klassen die verschiedenen Gruppen ohne Vorkenntnisse alle Lösungsvorschläge entwickelten, die vom Prinzip her als Niederdruckdampfmaschinen, Hochdruckdampfmaschinen, Dampfturbinen und Verbrennungsmotoren historisch auch tatsächlich realisiert wurden. Das ist ein typisches Motto der 9. Klasse: Die Jugendlichen entwickeln eigene Ideen. Aber diese müssen verändert und angepasst werden, um in der Realität Bestand haben zu können. Nachdem sich die Schüler damit auseinandergesetzt haben, fällt es ihnen relativ leicht, die Ideen von Savery, Newcomen oder Watt zu verstehen und in Form von Maschinenbeschreibungen »nachzudenken«. Animationen, Videos, Gedankenreisen durch Maschinen runden das Bild ab.

Ressourcenverschwendung, Speed Dating und geistiges Eigentum

Bei der historischen Tour ist es mir ein Anliegen, fächerübergreifend das Thema zu behandeln, zunächst das Thema Umweltschutz. Die katastrophalen Auswirkungen der Verbrennungstechnologie auf die Umwelt kann an der New­comen-Dampfmaschine mit ihrem Wirkungsgrad von unter 0,5 Prozent hervorragend dargestellt werden. Von einer Tonne eingesetzter Kohle wurden 995 Kilogramm sinnlos verpulvert! Und dann der Rebound-Effekt: Watt konnte die Effizienz der Dampfmaschine um das Sechsfache steigern. Jeder ging von einem Rückgang des Kohleverbrauchs aus. Doch das Gegenteil passierte: Der Kohlehunger stieg.

Ein Phänomen, das auf die heutige Zeit übertragen werden kann und zu Diskussionen mit den Schülern führt, ob durch höhere Effizienz der Ressourcenverbrauch gesenkt werden kann. Der stagnierende oder teils steigende Spritverbrauch von Kraftfahrzeugen trotz effizienterer Motoren, der weitere CO2-Anstieg trotz Energiewende und viele andere Beispiele lassen Zweifel aufkommen, ob Probleme, die durch Technik entstehen, allein durch Technik gelöst werden können.

Und ein weiteres Thema bietet sich an: Sollten Ideen durch Patente geschützt werden? Das Ausbremsen des technischen Fortschritts durch die Patente von Watt, lässt ebenso Zweifel aufkommen, ob das Patentieren von Ideen der Entwicklung der Menschheit dienlich ist, insbesondere wenn Ideen für Trivialitäten (Excenter) oder längst Bekanntes (Fliehkraftregler) vergeben werden.

Auch diese Fragen haben einen aktuellen Bezug, wenn man an Softwarepatente, Pharmapatente oder Biopatente denkt. Neben den offenen Diskussionen hat sich für diese Fragen als Unterrichtsmethode das SpeedDating/SpeedWriting bewährt: Die Schüler sitzen sich paarweise in einer Reihe gegenüber und diskutieren die an die Wand projizierten Leitfragen. Alle Minute rutschen die Schüler um einen Platz weiter, so dass sie sich über dieselbe Frage mit dem nächsten Gesprächspartner kurz austauschen können.

Nach acht bis zehn Platzwechseln werden diese Diskussionen abgebrochen und jeder Schüler schreibt für sich, ohne den Stift abzusetzen sieben Minuten lang seine Gedanken zum Thema.

Wenn der Kessel explodiert

Mit der Entwicklung der Hochdruckdampfmaschinen begann der Siegeszug der Dampfmaschine. Schnell verstehen die Schüler die Funktionsweise der doppelwirkenden Hochdruckdampfmaschine.

Die verheerenden Auswirkungen von Dampfkesselexplosionen ziehen die Aufmerksamkeit der Schüler auf sich. Insbesondere die Tatsache, dass meist nicht allein technisches Versagen, sondern das Ausreizen der Maschinen über deren Leistungsfähigkeit hinaus zu den Unglücken führte, beschäftigte die Schüler. Auch die sozialen und gesellschaftlichen Folgen der Industriellen Revolution gehören zum Thema Dampfmaschine dazu. Die katastrophalen Arbeitsbedingungen bei Massenproduktionen oder die sinnentleerte Fließbandarbeit sind eben auch Teil des technischen Fortschritts im 19. Jahrhundert.

Und sie sind bis heute nicht verschwunden, sondern in die Schwellen- und sogenannten Entwicklungsländer verschoben. Auch diese Fragen gehören zu einem fachübergreifenden Ansatz des Themas und treffen auf das in diesem Alter zunehmende Weltinteresse der Jugendlichen.

Höhepunkt Energiewende

Den Abschluss einer üblichen Epoche bildet das Thema Dampfkraftwerk. Damit sind wir in der Jetztzeit angekommen, weswegen ich auf diesen Themenblock keineswegs verzichten will. Steiner empfahl für die Physik der 9. Klasse, »zweitens die Thermik und Mechanisches, was notwendig ist, dass die Schüler ganz genau die Lokomotive verstehen können.« – Die neuesten Errungenschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren eben die Erfindungen, die das Verkehrswesen und die Kommunikation revolutionierten, also Dampfmaschine und Telefon.

Heute hängt unser Leben maßgeblich an der Stromer­zeugung. Und damit sind wir bei jener Turbinentechnik, die immer noch über 70 Prozent der heutigen Stromerzeugung in Deutschland ausmacht. Nicht nur in Kohlekraftwerken, Kernkraftwerken, Gas- und Ölkraftwerken spielt die Dampfturbine eine Rolle, sondern auch in solarthermischen Kraftwerken.

Soweit es mir möglich ist, verweile ich eine komplette Woche bei diesem Thema. Am Beispiel eines Kohlekraftwerkes erläutere ich auf der einen Seite das Zusammenspiel der einzelnen Komponenten. Dazu gehören neben Fragen des Wirkungsgrades und der Turbinentechnik auch die Physik des Kühlturms oder die chemischen Verfahren bei der Abgasreinigung. Auf der anderen Seite versuche ich, den Schülern einen Eindruck von den gigantischen Ausmaßen dieser Anlagen zu verschaffen.

Dem Thema Kohlekraftwerk würde ein wichtiger Aspekt fehlen, ginge man nicht auf die verheerende Umweltbilanz dieser Verbrennungstechnologie ein: Landschaftszerstörung – Ressourcenverbrauch – Emissionen – Beitrag zum Klimawandel. Es ist wichtig, den Schüler nicht mit den doch frustrierenden Eindrücken über die Zerstörung der Welt durch unseren Umgang mit Energie aus der Epoche zu entlassen. Und so muss mindestens ein Epochentag für den Sinn der Energiewende und die dabei verwendeten Energieformen eingeplant werden und welchen Beitrag jeder einzelne für einen bewussten Umgang mit Energie leisten kann.

Technischer Fortschritt muss kritisch hinterfragt werden

Die Schüler und wahrscheinlich auch etliche Physiklehrer werden sich fragen, was der vorgestellte Ansatz mit Physik zu tun habe. Meine Antwort: teils nur wenig. Aber entspricht es nicht gerade unserer heutigen atomistischen Denkweise, Wissen und auch dessen Vermittlung auf Fachdisziplinen aufzuteilen, wodurch der Blick für das Ganze verloren geht? Es hat sich zu einem Problem entwickelt, dass sich Wissenschaftler oder Techniker für ihre Erfindungen nicht verantwortlich zeigen: Kerntechnik – Bio- und Gentechnologie – Handy – Computertechnologie, um nur wenige Beispiele zu nennen.

Die Nutzung der Erfindungen wird der Wirtschaft überlassen, die sozialen, gesundheitlichen oder ökologischen Folgen werden nicht bedacht – es fällt ja nicht in die eigene Disziplin. Mit dieser Epoche will ich einen anderen Weg beschreiten, indem ich bei den Jugendlichen einen ganzheitlichen Blick auf eine Technik schärfe.

Und deswegen gehören eben Fragen nach Patenten, den gesellschaftlichen Auswirkungen der industriellen Revolution, Umweltschutz damals und heute und Fragen nach dem Nutzen von technischem Fortschritt wenn nicht in die Physik, so doch zumindest zum Epochenthema Kraftmaschinen.

Zum Autor: Christoph Köhler ist Physiker und unterrichtet Mathematik und Physik in der Oberstufe an der FWS Chiemgau. Die verwendeten Unterrichtsmaterialien in Form einer Literatur und Linkliste können beim Autor unter c.koehler@posteo.de angefordert werden.