Vorsicht vor vorschnellen Diagnosen. Wer Buchstaben verwechselt, ist nicht gleich Legastheniker

Monika Kollewijn-von Herz

Andre sammelt leidenschaftlich Fußballkarten und tauscht sie fleißig mit Jungen aus seiner dritten Klasse. Er kennt alle Namen der abgebildeten Fußballer, ihre Vereine und ihre größten Erfolge. Alles steht auf der Karte, nur lesen kann er sie nicht. Er kann auch keine längeren, zusammenhängenden Wörter schreiben. Er bemüht sich, doch er verwechselt viele Buchstaben: b und d, a und e und die Diphtonge au und eu. Es gelingt ihm auch nicht, eine sinnvolle Reihenfolge in Wörtern zu erkennen. Die Eltern versuchen, vermehrt mit ihm zu üben und stellen fest, dass er trotz vieler Wiederholungen bestimmte Laute und ihre Verbindungen nicht erkennt. Legasthenie ist erblich, oder sie wird durch unterschiedliche Faktoren in den ersten Schuljahren erworben. Sie äußert sich als Lernstörung, die sich darin ausdrückt, dass das Kind Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben hat, obwohl es ausreichend beschult wird und im häuslichen Umkreis genügend Unterstützung erhält. Die ererbte Form wirft schon im Kindergarten ihre Schatten voraus. Das zeigt sich oft im unausgereiften Phonem-Bewusstsein, das für den Umgang mit dem Sprachrhythmus und dem Klang der Wörter steht, und der Unlust, sich überhaupt mit Buchstaben zu beschäftigen. Dagegen baut sich die erworbene Form der Legasthenie erst über längere Zeit auf, wenn ungünstige Faktoren zusammenkommen.

Gefährliche Falle

Ohne es zu wollen, bauen Eltern, Lehrer, Geschwister und Mitschüler mit, wenn sie nicht erkennen, dass bestimmte Entwicklungen Zeit brauchen. Wie auch bei Andre machen viele Eltern die Erfahrung, dass häufiges Üben ihrem Kind nicht wirklich hilft. Im Gegenteil: oftmals entwickeln Kinder eine regelrechte Abneigung gegen Buchstaben und deren Zusammenhänge. Nicht lesen zu können, ist umso enttäuschender für das Kind und seine Eltern, je mehr sie bemerken, dass andere Kinder in der Klasse diese Fähigkeit bereits beherrschen. Wird das Lesen jedoch ausschließlich an Texten geübt, resignieren viele Kinder. Sie benötigen eine andere Art des Umgangs mit Sprache, Klang, Rhythmus und Formen. Dem unsicheren Tasten im Wald der Wörter liegt oft eine veränderte Wahrnehmung der Laute und Zeichen zugrunde. Abweichendes Erkennen der visuellen Eindrücke bedeutet, dass räumliche Beziehungen nicht sicher erfasst werden können. Das kann bei bestimmten Buchstaben dazu führen, dass ihre Unterschiede nicht registriert werden. Ein M wird mit W, ein b mit d oder a mit e verwechselt. In der Unterstufe ist das noch nicht ein sicheres Indiz für Legasthenie (wobei sie auch nicht ausgeschlossen werden kann), sondern weist zuerst nur auf eine mangelnde Reifung der Raum-Orientierung hin. Die Entwicklungspsychologin Jean Ayres betont, dass eine sichere Wahrnehmung der Raumlage von Formen erst mit neun Jahren erreicht wird. Auch Maria Montessori weist darauf hin, dass die Entwicklung der Schulfähigkeit sich in einem Zeitraum von plus/minus zwei Jahren vollzieht.

Das Tassenphänomen

Anschaulich wird dies am Beispiel des Tassenphänomens, das von den Psychologen Betz und Breuninger beschrieben wird. »Bei der Betrachtung ist es egal, ob der Henkel der Tassen nach links oder nach rechts schaut, die Tasse bleibt eine Tasse, in welcher Lage sie auch steht, ob auf dem Kopf oder der Seite.« Bei den Buchstaben ist es allerdings nicht egal, ob der »Henkel«, der Bauch oder der Bogen nach links, rechts, oben oder unten zeigt. Bei der Begegnung mit den Buchstaben und Zahlen müssen wir auf diese Verallgemeinerung verzichten und bewusst den »Schalter« in der Wahrnehmung umlegen. Manche von uns konnten das schon mit fünf, andere erst mit neun Jahren. Für einen Teil der Kinder bleibt es daher bis in das zehnte Lebensjahr schwierig, einen Unterschied zwischen bestimmten Buchstabenformen zu erkennen. Die Wahrnehmung reift eben individuell. Aber spätestens im zehnten Lebensjahr sollte jedes Kind in der Lage sein, eine unterschiedliche Lage von Formen zu erkennen und ohne größere Mühe lesen und schreiben können. Für betroffene Kinder ist dieser langsame Reifungsprozess jedoch eine Belastung, gerade auch dann, wenn sie sich mit anderen Kindern vergleichen.

Waldorfpädagogik hilft, das Interesse an den Buchstaben aufrecht zu erhalten

Die Waldorfpädagogik unterstützt die Kinder, indem sie beim Lesen- und Schreibenlernen darauf achtet, dass soziale, handwerkliche und sprachliche Fähigkeiten gleichzeitig entwickelt werden. Die Entwicklung mehrerer Sinnesbereiche schafft beste Voraussetzungen dafür. Durch den lebendigen Umgang mit der Sprache in Bewegung werden bildende Kräfte im Kind angesprochen, die eine solide Grundlage für weitere Fortschritte schaffen. Vielseitige Malübungen und das Formenzeichnen stärken außerdem das räumliche Vorstellungsvermögen. Davon profitieren die Kinder ungemein und die abwechslungsreichen Sinneserfahrungen verhindern einen einseitigen Umgang mit Lerninhalten.

Wahrnehmungsverzögerung oder Legasthenie?

Es stellt sich jedoch die Frage, aufgrund welcher Kriterien Lehrer der Unterstufe beurteilen sollen, ob es sich bei abweichendem Lernverhalten um eine entwicklungsbedingte Verzögerung der Wahrnehmung handelt oder ob eine »echte Legasthenie/Dyskalkulie« vorliegt? Eine ererbte Legasthenie ist in jedem Fall behandlungsbedürftig. Doch welche Indizien weisen in die eine oder die andere Richtung? Eine Antwort auf diese Frage ist nicht leicht zu geben, dennoch gibt es eine Reihe von Ansätzen, die weiterführen.

Um bei der Entwicklungsbeobachtung auch die vorhandenen Potenziale bemerken zu können, lohnt es sich, die Grundfertigkeiten des Lernens anzuschauen. Im Wesentlichen geht es dabei um drei Bereiche:

Begriffsbildung: Gerade im sprachlichen Ausdrucksvermögen des Kindes können wir bedeutsame Entwicklungsschritte beobachten. Ist das Kind in der Lage, den Sprachrhythmus in Silben zu erfassen und kann es Reimwörter bilden, dann verbessert sich die sichere Anwendung der Sprache, auch wenn es zunächst schriftlich noch keine Entsprechung gibt. Beginnt das Kind, Grundsätzliches und Regelhaftes zu erkennen, sowohl in den Naturphänomenen, wie in der Mathematik, aber auch in Wortbausteinen, lernt es eigenständige Begriffe zu bilden und zuzuordnen. Begriffe zu bilden ist wichtig, um Sinneseindrücke verarbeiten, sich erinnern und aus Erfahrungen lernen zu können.

Nachahmung: Die Nachahmungsfähigkeit spiegelt die Chance des Kindes, auf nonverbaler Ebene zu verstehen und zu lernen. Sehen und hören, was momentan angeboten wird und dieses wiedergeben zu können, eröffnet die Möglichkeit, »am Modell« zu lernen. Die Nachahmung ist von großer Bedeutung für gelingendes Lernen.

Bewegungskoordination und Raumorientierung: Am intensivsten zeigt sich der Fortschritt der Raum-Orientierungs-Fähigkeiten in der Bewegung. Einen Ball zu werfen und beim Werfen und Fangen das richtige Kraftmaß anzuwenden, macht nicht nur großen Spaß, sondern vermittelt auch ein Erfolgserlebnis. Unbewusst spüren Kinder, dass sie in der Lage sind, Distanzen richtig einzuschätzen und innerhalb ihres eigenen Raumes zu agieren. Die Eroberung des persönlichen Raums unterstützt die Fähigkeit, sich in andere Räume wie Zahlenräume und Formen hineinzuversetzen. Das stärkt die positive Entwicklung und der Transfer vom Greifen zum Begreifen kann leichter gelingen. Sind die Grundfertigkeiten des Lernens ausreichend angelegt, kann man darauf vertrauen, dass sich das Kind seinen Weg in seinem individuellen Tempo durch das Dickicht der Anforderungen bahnen wird. Nichtsdestoweniger sollte die Entwicklung der Kinder mit wachem und liebevollem Blick betrachtet und sollten Übergangsprozesse beobachtet werden. Die Waldorfpädagogik bietet viele Möglichkeiten, die vitalen Bausteine der kindlichen Entwicklung zu unterstützen.

Zur Autorin: Monika Kollewijn-von Herz ist Lerntherapeutin, Legasthenietrainerin, Referentin, Gründerin des Institut MEMO Bergischland für Lernförderung & Diagnostik, Coaching und Supervision in Wuppertal, 15 Jahre Eurythmielehrerin in Wuppertal, www.memo-bergischland.de

Literatur: J. Ayres: Bausteine der Kindlichen Entwicklung, Heidelberg 2013; D. Betz/H. Breuninger: Teufelskreis Lernstörungen, Weinheim 1998