Wann kommen die Kinder wieder? Ein Besuch im Pflegeheim vermittelt überraschende Einsichten

Christel Dhom

Die Zweitklässler hörten das Märchen der Gebrüder Grimm »Der alte Großvater und der Enkel« im Religionsunterricht. »Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen musste sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt; da sah er betrübt nach dem Tisch, und die Augen wurden ihm nass. Einmal auch konnten seine zitterigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach.

Die junge Frau schalt, er sagte aber nichts und seufzte nur. Da kaufte sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, daraus musste er nun essen. Wie sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. ›Was machst du da?‹ fragte der Vater. ›Ich mache ein Tröglein,‹ antwortete das Kind, ›daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.‹ Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten sofort den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen, sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete.«

Danach sprachen wir darüber, was sich verändert, wenn man alt wird. Die Schüler wussten, dass alte Menschen nicht mehr so gut hören oder sehen, dass sie manchmal sogar beim Essen Hilfe brauchen oder nicht mehr so gut laufen können und einen Rollstuhl benötigen. Ein Schüler konnte von seinen Erfahrungen und Beobachtungen mit einer pflegebedürftigen Tante erzählen.

Empathieübungen mit Zweitklässlern

Um den Kindern zu vermitteln, wie es sich anfühlt, wenn man mit Einschränkungen leben muss, haben wir folgende Empathieübungen gemacht:

• Alle Schüler steckten sich ein Flöckchen Schafwolle in die Ohren. Dadurch waren Stimmen und Geräusche abgedämpft. Sie waren nicht mehr ganz so deutlich zu hören.

• Ein Kind hatte verbundene Augen, ein anderes sollte es so durch den Raum führen, dass es sich nicht verletzen konnte. Dabei waren Vertrauen und Verantwortung gefragt.

• Ein Kind wurde von einem anderen Kind sorgsam mit Schokoladenpudding gefüttert.

• Ein Kind saß auf einem mit Rollen versehenen Bürostuhl (= Rollstuhl). Ein anderes sollte es achtsam an einen bestimmten Ort fahren.

Es war erstaunlich, welche Erfahrungen die Kinder der zweiten Klasse dabei sammelten. Ausnahmslos alle fühlten sich – erfreulicherweise – sehr wohl in der Rolle des Helfenden. Gerne wollten sie für andere etwas tun. Wie war es aber auf der anderen Seite? Was empfand man, wenn man auf Hilfe angewiesen war? Sehr beeindruckend war die Feststellung eines Jungen, der sagte, dass ein Erwachsener sich nicht wohl fühlen könne, wenn man ihn füttere, weil eigentlich nur Tiere Futter bekommen. Wie recht er doch hatte! Gemeinsam suchten wir nun nach anderen Begriffen. Die Kinder fanden Umschreibungen wie: Essen reichen, Essen geben, beim Essen helfen, zusammen Essen …

Fäden in die Vergangenheit

Eine Möglichkeit, Beziehung zwischen Alt und Jung zu stiften sind die Fadenspiele. Wir übten in der Klasse einige Wochen lang Fadenspiele, um uns dann mit dem Bus auf den Weg nach Kaiserslautern zum Pflegeheim Kessler Handorn zu machen. Die Bewohner kennen die Spiele aus ihrer eigenen Kindheit und können sich trotz demenzieller Veränderung daran erinnern. Meist werden die alten Menschen auch emotional in die Zeit ihrer Kindheit versetzt, in der sie noch ein beschwerdefreies Leben führten.

Unsere Zweitklässler fremdelten nur wenig. Vieles war durch unsere Gespräche, vor allem aber durch den Austausch mit der sechsten Klasse, die auch einmal solch ein Projekt durchgeführt hatte, schon geklärt: »Im Heim riecht es manchmal nicht so gut. Das ist aber nur am Anfang und dann merkt man nix mehr!« So als wäre der Weg schon vorgespurt, begannen die Kinder, mit den Bewohnern zu spielen. Völlig unbefangen übernahmen die Kinder einzelne Fingerbewegungen der Erwachsenen, wenn deren Motorik sie im Stich ließ. Die acht- und neunjährigen Buben und Mädchen hatten keine Berührungsängste, sondern Spaß am gemeinsamen Spiel. Die Freude war auch den Gesichtern der Bewohner abzulesen.

Wir möchten unsere Besuche im Pflegeheim fortsetzen, sowohl mit den Zweitklässlern, als auch mit den Sechstklässlern. Vielleicht um Sterne zu basteln, Plätzchen zu backen und Weihnachtslieder zu singen. Auf jeden Fall aber, um uns zu begegnen, um miteinander zu lachen und manchmal auch zu weinen. Diese Besuche sind für unsere Kinder und die Bewohner des Pflegeheims Kessler Handorn zu einer Bereicherung geworden. Die Pflegedienstleiterin erzählte uns, dass die Bewohner immer wieder fragen: »Wann kommen die Kinder wieder? Es war so schön.«