Was ist eine gute Klassenfahrt?

Michael Birnthaler

Welchen pädagogischen Wert haben Klassenfahrten?

Wahrscheinlich gibt es kein pädagogisches Mittel, das einer Klasse mehr Identität verleiht als eine Klassenfahrt. Klassen­fahrten sind kollektive Bewährungsproben. Wer eine Klasse schon einmal im Modus »vorher« und »nachher« einer Fahrt beobachtet hat, wird bemerkt haben: Hat eine Klasse eine herausfordernde Reise und eine damit verbundene Aufgabe gemeistert, steht sie danach aufrecht, geordnet, »mit erhobenem Haupte« da.

Sie ist über sich hinausgewachsen und hat einen Quantensprung der inneren Reife vollzogen. Klassenfahrten haben das Potenzial, nachhaltig wirkende »Initiationshelfer« des »Klassengeistes« zu sein.

Klassenfahrten unterstützen soziales Lernen

Schulisches Lernen ist – je höher die Klasse – fast ausschließlich nicht-gemeinschaftliches Lernen. Frontalunterricht, vielleicht auch Konkurrenzdenken und Einzel­- kämpfertum dominieren. Mobbing tritt auf. Folgerichtig ist der Hauptwunsch der Lehrerschaft an die Klassenfahrt: Konsolidierung der Klassengemeinschaft. Und in der Regel geht die Rechnung auf: Wer eine Woche lang Schlafraum und Tisch teilt, wer den Rucksack eines anderen trägt, wer einige Tage mit ihm »in einem Boot sitzt«, wer seinem Klassen­kameraden ein Pflaster auf das zerschundene Knie heftet, kommt ihm näher. Es werden neue Freundschaften geschlossen, aus einem wilden Haufen wird eine funktionierende Klassengemeinschaft.

Welcher Typ Klassenfahrt ist in welchem Alter angebracht?

Der Lehrplan einer Waldorfschule ist ein famoses Kunstwerk. Einer seiner Kerngedanken ist die Wiederholung der Menschheitsentwicklung während der Schulzeit in Miniaturform. Erst mit dem Überschreiten des »Rubicon« (um das 9./10. Lebensjahr) beginnt die Ära der Klassenfahrten. Trotzdem sollten die ersten Klassenfahrten noch ganz den Atem des »Paradiesischen« verströmen.

Mit der siebten Klasse kommen die Kinder ins Zeitalter der Entdecker und Eroberer. »Grande Aventura« ist jetzt das passende Motto für die Klassenfahrt. Unmittelbar vor der Oberstufe sollte eine Fahrt den Charakter eines »Übergangsritus«, einer »Heldenreise« annehmen. In der Oberstufe dagegen haben sie die beste Chance, das Weltinteresse und den Idealismus der Jugendlichen zu entflammen.

Wohin sollte eine Klassenfahrt gehen?

Jüngere Kinder haben den unbändigen Drang, sich in Höhlen zu verkriechen, später in Zelten und Hütten zu hausen. Feuermachen, Spurenlesen, ein einfaches Leben inmitten heimatlicher Natur zu verbringen, befriedigt eine tiefe Ursehnsucht des Heranwachsenden in diesem Alter. Analog zur Menschheitsgeschichte folgt nun das Zeitalter der Nomaden – die Jahre der Wanderlager brechen an.

Trekkingtouren zu einem 100 oder 200 Kilometer entfernten Ziel, Rad- oder Kanuwanderungen in der Nähe sind jetzt Trumpf. Mit der »Sesshaftwerdung« verschiebt sich der Schwerpunkt auf die »Standlager« in einem festen Haus. Als Faustformel gilt dabei: Lieber eine tolle »Location« im Schwarzwald, als ein windiger Schuppen in Florenz.

Welchen Anforderungen sollte ein Schullandheim genügen?

Mit dem Schullandheim steht und fällt der Erfolg der meisten Klassenfahrten. Die entscheidenden Kriterien für ein gutes Schullandheim sind:

  • Es darf nicht zu klein und auch nicht zu groß sein. Ideal sind 30-50 Betten.
  • Es sollte keine Massenherberge sein (wie fast immer bei Jugendherbergen).
  • Eine ausreichende Zahl von Gruppen-, Spiel- und Aufenthaltsräumen sollten vorhanden sein.
  • Es sollte genügend Spiel- und Sportmöglichkeiten im Haus und auf dem Gelände geben.
  • Wichtig sind moderne und saubere sanitäre Anlagen und Duschgelegenheiten,
  • und eine geräumige, gepflegte und komfortabel ausgestattete Selbstversorgerküche.
  • Das Haus sollte kuschelige Wärme, Ästhetik und Geborgenheit ausstrahlen.

Es braucht das gewisse Etwas

Klassenfahrten von anno dazumal mit Wandertag, Schwimmbad, Fußballturnier, Lagerfeuer und kleiner Nachtwanderung wecken bei Schülern heute nur noch den Gähnreflex. Ohne das gewisse Etwas, ohne eine Prise Abenteuer, ist der Löwenanteil der Schüler fast nicht mehr hinter dem Ofen hervorzulocken. Es sind nicht zuletzt die Jungs, die in einem feminin geprägten Schulbiotop nach »echten Abenteuern« dürsten.

Bei Höhlenbegehungen, Kanufahrten oder Geländespielen wird dagegen ihr Erlebnishunger gestillt. Zugleich werden sie gegen die künstlichen Abenteuer aus der Scheinwelt der Medien und Computerspiele immunisiert.

Sollte auf einer Klassenfahrt ein »Profi« dabei sein?

Schule und Klassenfahrt sind verschiedene Welten. Ein guter Lehrer muss noch längst kein guter Pädagoge auf Klassenfahrten sein. Und es ist ihm auch nicht zu verübeln. Zum einen hat er es normalerweise nie gelernt. Zum anderen herrschen in der Schule und auf einer Klassenfahrt vollkommen andere pädagogische Gesetze. Hier das Wissen, dort das Erleben; hier der Einzelne, dort die Gemeinschaft; hier das streng Geplante, dort das lustvoll offene Wagnis. Hier Apollo, dort Dionysos. Falls der Klassenlehrer in diesem fremden Metier nicht sattelfest ist, ist eine erlebnispädagogische Hilfe zu empfehlen.

Sind Klassenfahrten und Nachhaltigkeit zu vereinen?

Es gibt unter Klassenfahrten schwarze Schafe, die eine abschreckende Kopie von typischen Neckermann-Reisen sind. Andererseits bergen die Klassenfahrten die Chance, unsere nachwachsende Generation für die Idee des sanften Tourismus und des ökologischen Reisens zu sensibilisieren.

Heute wissen wir aus zahlreichen Studien, dass nur diejenigen Erwachsenen ökologisch handeln, die selbst in ihrer Kindheit einen erlebnishaften Bezug zur Natur entwickeln konnten. Wer also als Kind bei einem Zeltlager »am eigenen Leib« erfahren hat, wie wichtig es ist, mit Müll, Plastik, Energie, Lebensmitteln, Ressourcen sorgsam umzugehen, wird dies als Erwachsener »verinnerlicht« haben.

Nur dann, wenn eine Klassenfahrt professionell konzipiert wird, wenn sie nicht nach dem unausgesprochenen Motto des »Dolce Vita« vom Stapel läuft, wenn stattdessen von den unteren Klassen an eine niveauvolle »Klassenfahrten-Kultur« begründet worden ist, wird in den oberen Klassen kein Drang nach »Ballermann-Klassenfahrten« aufkommen.

Klassen dagegen, die in der Mittelstufe wenige oder enttäuschende Klassenfahrten miterlebt haben, lechzen ab der achten Klasse nach Klassenfahrten mit hohen »Chill-Werten« und »Wein, Weib und Gesang«.

Zum Autor: Dr. Michael Birnthaler, Leiter der EOS-Erlebnispädagogik, www.eos-ep.de