Ausdauer wird zu Treue

Andreas Neider

In unserem Falle – bei der Ausdauer und Treue – auf die Unbeständigkeit und die Untreue. Die Grundlage jeglichen Strebens, sein Leben nach moralisch-ethischen Gesichtspunkten einzurichten, ist gerade dieses Erlebnis: Wir haben ein bestimmtes Ideal, dieses oder jenes zu tun, wir tun es aber nicht, weil uns etwas daran hindert. Wer oder was ist dieses Etwas? Wer oder was hindert uns daran, Ausdauer zu zeigen, treu zu sein?

Die Alltagserfahrung zeigt uns die Unbeständigkeit unseres Wesens, ja der menschlichen Natur überhaupt, denn von Natur aus sind wir nun einmal nicht ausdauernd.– So, wie wir von Natur aus beschaffen sind, neigen wir zur Unstetigkeit. Dennoch oder gerade deshalb erscheint uns die Ausdauer als eine Tugend. Wie können wir diesen Zwiespalt überwinden? »Die Tugenden erwerben wir, indem wir sie zuvor ausüben, wie dies auch für die sonstigen Fertigkeiten gilt«. So meint jedenfalls Aristoteles. »Denn was wir durch Lernen zu tun fähig werden sollen, das lernen wir eben, indem wir es tun.« Die Unstetigkeit unserer Natur überwinden wir also durch die Übung der Ausdauer. Wie aber?

Unstetigkeit ist die Eigenschaft alles Leiblich-Seelischen, eben unserer Natur, während Ausdauer oder Dauer überhaupt die Eigenschaft des Geistigen ist. Der Begriff des Baumes ist dauernd, während der Baum in der Natur entsteht und vergeht. Das Wesen des Menschen, sein Ich, ist dauernd, es hat Ewigkeitscharakter; sein Leiblich-Seelisches aber entsteht und vergeht und ist dem Wechsel unterworfen.

Zur Übung der Ausdauer muss diese Unstetigkeit überwunden werden, das heißt, das Dauernde im Menschen muss sich gegenüber dem Wechselnden, das Geistige gegenüber dem Leiblich-Seelischen behaupten. Darin besteht das Tugendhafte, wird die Tugend der Ausdauer erlebbar. Rudolf Steiner ordnet die Übung der Ausdauer dem Sternzeichen der Zwillinge zu. Natürliche Eigenschaft des Zwillings aber ist die Unstetigkeit, das Hin- und Herschwanken zwischen Möglichem und Wirklichem. Die Kräfte des Tierkreises haben dem Menschen seine Natur, seine leiblich-seelischen Grundlagen verliehen. Auf ihnen baut er mit seinem Geistigen auf, sie gilt es vom Geistigen, von der Zukunft her zu verwandeln.

Der Mensch lebt in der Spannung zwischen seinem Geistig-Ewigen und dem Leiblich-Seelisch-Gewordenen. Er ist ein werdendes Wesen, und der stärkste Ausdruck dieses Werdens ist die Übung der Tugenden. Dadurch durchdringen sich die beiden sonst unverbundenen Sphären und etwas Neues entsteht.