Bergsteiger waren nie darunter. Gewalt als Suche nach Grenzen

Mathias Wais

Drei Jugendliche einer 11. Klasse schlendern durch den Stadtpark. Ein etwa gleichaltriger Junge kommt ihnen entgegen, den Blick und die Hand auf dem Smartphone. »Schickes Teil hast du da. Zeig doch mal.« Der Junge versucht auszuweichen. Grinsend, wie er später aussagt, schubsen ihn die Jugendlichen erst, schlagen dann auf ihn ein. Als er zu Boden fällt, treten sie nach ihm. Die Aussage der Jugendlichen bei der Polizei zu ihrem Motiv erschöpft sich in Formulierungen wie »nur so«, »hat sich so ergeben« und »der kam so blöde daher«.

Einige Schüler einer sechsten Klasse klemmen Nägel hinter die Reifen des Autos ihres Lehrers, so dass sie sich beim Anfahren in die Reifen bohren werden. Wieso? »Der ist immer so ungerecht«. Ein zehnjähriger Junge hockt im Gebüsch bei einer Ausfallstraße. Er bewirft vorbeifahrende Autos mit Steinchen, schließlich auch einen Fahrradfahrer. Wieso? »Wollte es halt mal ausprobieren«.

Diese Art von Aggression und Gewalt durch Jugendliche oder Kinder scheint kein Motiv zu haben, allenfalls ein zufälliges, situatives: »Der kam so blöd daher«. Auch die psychosoziale Gewalt, die eher die Domäne von Mädchen ist und die nicht mit Fäusten, sondern mit Worten zuschlägt und verletzt, scheint keinen Sinn zu haben. In der Straßenbahn: Fünf Mädchen sitzen zusammen und schnattern fröhlich. Schräg gegenüber sitzt ein Junge, etwa 14 Jahre alt. Unvermittelt hört man – scheinbar geflüstert, aber so laut, dass es der Junge hören muss: »Seht mal seine breite Hose. Ob der noch Windeln trägt?« Kichern. Dann: »Bestimmt Muttis Liebling. Sie kauft für ihn ein.« So geht es weiter, bis der Junge bei der nächsten Haltestelle fluchtartig die Bahn verlässt.

Was fehlt eigentlich?

Gewalt aus Langeweile? Aus Unterforderung? »Nur so« eben? Was fehlt Jugendlichen und Kindern, die in der skizzierten Weise Grenzen überschreiten? Mein Fazit nach 30 Jahren Erziehungsberatung: Erst mal nichts! Subjektiv, wenn man sie näher kennenlernt, scheint ihnen nichts zu fehlen. Ist das das Problem? Wenn wir aber weitere Beobachtungen und Berichte der Jugendlichen oder ihrer Eltern dazustellen, zeigt sich, dass doch etwas fehlt:

Familie M. plant den Sommerurlaub. Bali und Tunesien sind in der engeren Wahl. Da wird die fünfjährige Tochter Marlene gefragt: »Möchtest Du im Urlaub lieber nach Bali oder lieber nach Tunesien?«. Die Kleine sagt »Bali«, weil ihr das Wort besser gefällt. In Bali angekommen, ist es im Hotel schwül und turbulent. Marlene nörgelt nur. Noch bevor die Koffer ausgepackt werden, führen die Eltern ein einfühlsames Gespräch mit der Tochter, in dessen Verlauf diese unter Tränen hervorstößt: »Ich möchte lieber nach Tunesien!«

Das Ehepaar S. hat sich getrennt. Der Vater hat – so die Mutter zu ihrem zwölfjährigen Sohn – »uns« verlassen. Sie weiht ihn ein in die Probleme und ihre Frustrationen in der Ehe. Sie enthüllt ihm das »wahre Gesicht« seines Vaters – »er hat immer gelogen« –, macht ihn zu ihrem Vertrauten, zum Kumpel, holt ihn auf die Erwachsenenebene.

Im Schwimmbad: Schon an der Kasse zeigt sich die kleine Fiona kratzbürstig. Sie will die schicken Badesandalen haben, die an der Kasse ausgestellt sind. Die Mutter: »Die sind aber teuer.« Fiona: »Ich will aber«. Die Mutter: »Du weißt doch, dass wir dir sonst alle Wünsche erfüllen.«

Ja, da liegt wohl das Problem. Viele Kinder und Jugendliche wachsen mit einer bestimmten Art der Verwöhnung, der Schonung, ja Verhätschelung auf, die ihnen augenscheinlich nicht bekommt. »Verwöhnung« ist hier nicht primär materiell gemeint. Vielmehr wachsen sie ohne Grenzen auf, überbefürsorgt, behandelt wie Erwachsene.

Die elementarsten und selbstverständlichsten Regeln und Grenzen werden nicht durchgesetzt, sondern diskutiert. Ob man abends die Zähne putzt, ob man für die Familie kleine Aufgaben übernimmt, ja, auch ob man die Hausaufgaben machen muss, wenn man doch müde ist wegen der Party gestern Abend, das wird ausdiskutiert. Hier verabschiedet sich Erziehung.

Wenn alles aus Gummi ist

Fragt man die Eltern, wieso sie sich darauf einlassen, wird erwidert, übrigens oft mit Stolz: »Wir nehmen unsere Tochter, unseren Sohn sehr ernst.« Dieses sogenannte Ernst-Nehmen führt dazu, dass noch jede Stimmung, jede kleinste seelische Blähung (pseudo-)psychologisch mit dem Kind zusammen analysiert werden – in langen Gesprächen, zu denen sich das Kind, der Jugendliche manchmal herablassen. Diese Kinder und Jugendlichen wachsen mit Gummiwänden auf. Soll heißen: Regeln und Grenzen, die von den Eltern nicht durchgehalten, sondern verhandelt werden, geben keine Sicherheit. Ein Haus, in dem man sich sicher fühlen kann, hat feste, gemauerte Wände. Die Wand grenzt mich ein, engt mich ein, gibt mir aber auch Geborgenheit und Schutz. Wenn die Wände aus Gummi sind, wenn sie nachgeben oder sich ganz auflösen, sobald ich mich dagegen lehne, so bläht dies mein Ego auf, gibt mir aber keinen Halt und keinen Schutz. Schon lange ist bei Kindern und Jugendlichen, die durch ihre scheinbar sinnlose Gewalt auffallen, ein Verlust von Respekt zu beobachten. Respekt markiert auch eine Grenze. Die Grenze, in der der Andere seine Würde hat. Sicher gibt es für diese Entwicklung nicht nur die eine Ursache. Medien, Facebook, die Peer-Group, gesellschaftliche Tendenzen, Enthemmung durch die Anonymität des Internets, haben hier ebenso ihren Anteil wie die verwöhnende Erziehung.

Der Vater eines der Jungen, die ihrem Lehrer die Nägel unter die Reifen geklemmt hatten, war übrigens schulbekannt dafür, im Konfliktfall reflexartig sich auf die Seite seines Sohnes zu stellen. Auch wenn der Junge zu Hause nölte wegen zu viel Hausaufgaben, rief der Vater – in Gegenwart des Jungen – den Lehrer an und beschimpfte ihn als unfähigen Pädagogen. Wie soll sich so ein Kind seinen natürlichen Respekt gegenüber dem Lehrer erhalten?

Im goldenen Käfig des Pseudo-Ernst-Nehmens

Wir haben in der Waldorfpädagogik das Privileg, von einem geistigen Menschenbild ausgehen zu können. Erziehung ist Ansprache an den Wesenskern des Kindes in der Weise, dass dieser Wesenskern sich auf der Erde verwirklichen, seine mitgebrachten Talente einbringen kann. Diese Ansprache an das ja erst sich entfaltende Ich muss fordern, den Wesenskern herausfordern. Durch Verwöhnen und Verhätscheln, durch ein Pseudo-Ernst-Nehmen, das annimmt, das Ich des Kindes sei schon fertig, auch durch Kumpelpädagogik, wird dieser Wesenskern nicht angesprochen, sondern wie in einem goldenen Käfig eingesperrt. Die notwendige Herausforderung geschieht durch das Setzen von Grenzen ebenso wie durch alters- und persönlichkeitsgemäße Anreize, die eigenen Grenzen kennenzulernen und gegebenenfalls zu erweitern. Eine Erziehung ohne feste Grenzen führt zu einer elementaren Unterforderung, einer existenziellen Langeweile. Die Neigung zur Grenzüberschreitung schwillt in dem Maße an, wie Grenzen nicht gezeigt und durchgesetzt werden. Die auf den ersten Blick sinn- und motivlose Gewalt stellt sich somit als – sicherlich unbewusste – Suche nach Grenzen dar.

Persönlichkeit, die ebenso freie wie verantwortungsbewusste Persönlichkeit, entsteht nicht durch Wunsch-Erfüllung, sondern durch Selbstüberwindung. Ob diese im Sport, bei Jugendlichen vielleicht sogar im Extremsport liegt, ob im sozialen Bereich, im Umweltschutz, ist dem Alter und dem Individuum entsprechend zu finden.

Bei Kindern zählt noch das Vorbild. Was erlebt das Kind zu Hause bezüglich der Achtung vor anderen Menschen? Kann es am Vorbild der Eltern erfahren, dass zum Beispiel ein Engagement im Umweltbereich eine befriedigende Herausforderung sein kann?

Wo liegen die persönlichen Herausforderungen?

Was tun? Gibt es Rezepte? Wenn ja, liegen sie präventiv gesehen im Bereich der geeigneten Herausforderung und geeigneter Aufgaben. Wenn ich die Kinder und Jugendlichen, um die es hier geht und die ich im Rahmen der Erziehungsberatung kennengelernt habe, Revue passieren lasse, fällt mir auf, dass kein einziger dabei war, der systematisch einer persönlichen Herausforderung nachging. Segelflieger, Jugendfeuerwehrleute, Kanuten, Musizierende oder Bergsteiger waren nie dabei.

Und wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, die Polizei vor der Tür steht? Der harte Brocken für den Erziehungsberater sind nicht die Kinder und Jugendlichen, sondern deren jetzt verzagte und verstörte Eltern: »Er hat doch alles, was er braucht.« Eltern haben es schwer, hier umzudenken. Schwerer als die Jugendlichen. Mit diesen, sofern man mit ihnen ins Gespräch kommt, lässt sich ganz gut ein Bild ausmalen, wohin ihr Weg der sinnlosen Grenzüberschreitung führen könnte. Ich frage auch nicht nach Motiven der Gewalt, sondern nach ihren Zielen. »Suche die Grenzen in Dir, dann brauchst Du nicht anderer Leute Grenzen zu verletzen.« Das etwa ist die Botschaft. Sie kommt nicht immer an. Oder sie kommt später an: Wenn die Berufsausbildung beginnt oder wenn die erste feste Beziehung Verantwortung und Einsatzbereitschaft erfordert. »Die« Gesellschaft, das Leben selber erziehen mit. Man darf nur eines nicht: diese Jugendlichen ausgrenzen oder als notorische Schläger brandmarken. »Denn sie wissen nicht, was sie tun«, trifft selten so genau zu wie hier.

Zum Autor: Mathias Wais war langjähriger Mitarbeiter des Dortmunder Zentrums »Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene«.