Bindung ist Voraussetzung für Bildung

Armin Krenz

»Wie immer der Weg der Kindheit und des Heranwachsenden verläuft, es geht darum, den Umgang mit sich selbst zu erlernen und zur Sorge für sich selbst in der Lage zu sein, soll das eigene Lernen nicht von anderen abhängig bleiben. Nur über die Selbstsorge wird das Leben zu einem eigenen, und nur dort, wo es Selbstaneignung gibt, kann es Selbstverantwortung geben. Sich um sich zu kümmern und doch nicht die Unbekümmertheit dabei zu verlieren – das stellt das dynamische Zentrum der kindlichen Lebenskunst dar«, schreibt Wilhelm Schmid, Philosophieprofessor an der Universität Erfurt. Diese »Lebenskunst« schließt eine Reihe von Fähigkeiten ein. Wer in ihr Meister ist, kann im Erwachsenenalter gegenwärtige, positive Erlebnisse in all ihrer Vielschichtigkeit genießen und immer wieder über eigene Entwicklungen und Stärken staunen. Er sucht mit Offenheit, Interesse und Neugierde die Herausforderungen des Alltags und stellt sich ihnen mit Engagement. Alte, das Leben einengende Fühl-, Denk- und Handlungsmuster erkennt er und löst sich von ihnen. Er erkennt Zusammenhänge von Ereignissen und gewinnt daraus neue Handlungsstrategien zur Lösung von Problemen. Er ist identisch mit sich und kann sich selbst sagen: »Wie schön, dass ich geboren bin. Dem Leben schenk’ ich einen Sinn.« Das sind die fundamentalen und zentralen Ziele der Bildung.

Die Macht der Gefühle

Über viele Jahrhunderte hinweg sahen Wissenschaftler wie Laien die Rationalität und Intelligenz des Menschen als die Perle der Schöpfung an. Das hat sich durch vielfältige Untersuchungen relativiert, ist doch inzwischen bekannt, dass stets vor allen kognitiven Prozessen und Handlungsimpulsen die Emotionen die entscheidenden Impulse dafür geben, in welche Richtung gedacht und wie gehandelt wird. Es ist die »Macht der Gefühle«, die unser Leben steuert. Mittlerweile haben führende Hirnspezialisten den Beweis dafür vorgelegt, wie Emotionen das gesamte Leben bestimmen. Stets aktivieren sogenannte »alte Bilder« Erfahrungen, die im Frontallappen unseres Gehirns verortet werden und mit einem der vier Grundgefühle verbunden wurden (Freude, Angst, Trauer, Wut). Auf diese Weise wiederholen wir in der Gegenwart zurückliegende Erlebnisse, Erfahrungen und Ereignisse, ohne uns dessen bewusst zu sein. Ein Kind zum Beispiel, das von einem Erwachsenen, der für es eine hohe Bedeutung hatte, immer wieder enttäuscht oder verängstigt wurde, wird dazu neigen, in anderen Erwachsenen um so stärker einen »Bündnispartner« zu suchen (Freude: »Da ist endlich jemand, der mein Freund sein kann«) oder in ihnen weitere Feinde zu vermuten (Wut: »Auch dieser Erwachsene wird mich enttäuschen«). Ein anderes Kind, das eine sichere, stabile, vertrauensvolle Bindung zu seinen Bezugspersonen erlebt hat, wird beim Anblick fremder Personen weder Angst noch Trauer oder Wut verspüren, sondern mit einem freudigen Interesse auf sie zugehen.

Bindungen schaffen Bildungs- und Entwicklungswünsche

Die Ergebnisse der Bindungsforschung stehen in enger Beziehung zu diesen Erkenntnissen und besitzen für die aktive Entwicklungsbegleitung von Kindern einen besonders hohen Wert. Vereinfacht ausgedrückt: Eine liebevolle, vertrauensvolle und verlässliche Bindung, die Kinder in ihren ersten (und auch weiteren) Lebensjahren mit ihren Eltern sowie anderen Erwachsenen erfahren, ist nicht nur die Basis für tiefes Selbstvertrauen, für Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, sondern auch für die »Lebenskunst« des Menschen. Um mit den Worten der renommierten Erziehungsstilforscherin Diana Baumrind zu sprechen: »Kinder brauchen erst Wurzeln, dann Flügel«. Nur durch tief erlebte Geborgenheit sind Kinder in der Lage, ihre »Lebenswurzeln« in Form von Sicherheit und Lebensfreude zu entwickeln. So vielfältig die Verhaltensirritationen bei Kindern und Jugendlichen heute sind, epidemiologische Studien haben deutlich gezeigt, dass Ängste, Gewaltbereitschaft, Aggression, Vermeidung von Anstrengung, Widerstand oder generelle Antriebslosigkeit häufig auf fehlende Bindungserfahrungen zurückgeführt werden können. Eine als sicher erlebte Bindung ist ein wesentlicher Schutzfaktor gegen seelische Irritationen – das gilt ja selbst für uns Erwachsene.

Bindungsverluste schwächen Körper, Geist und Seele

In der Bindungstheorie, die sich mit der emotionalen Entwicklung des Menschen beschäftigt, wird von drei Bindungsarten gesprochen. Zum einen geht es um die »sichere Bindung« – hier erleben Kinder und Jugendliche vor allem Verbundenheit, Nähe, Zärtlichkeit, Fürsorge und Schutz. Bei der »unsicher-ambivalenten Bindung« verspüren Kinder eine permanente Angst davor, dass sie verlassen werden. Diese Angst entsteht durch Erfahrungen.

Bezugspersonen verhalten sich häufig ambivalent: Sie zeigen einfühlende Verhaltensweisen und drücken gleichzeitig durch ihre Körpersprache Ablehnung oder Abwehr aus. Kinder, die unter solchen ambivalenten Bindungen leiden, wollen unbedingt auf den Arm genommen und schon nach kürzester Zeit wieder auf den Boden gesetzt werden. Auch das »Klammern« lässt sich in der Regel auf eine solche Bindungserfahrung zurückführen. Schließlich gibt es die »unsicher-vermeidende Bindung«. Dabei verhalten sich die Kinder und Jugendlichen häufig verschlossen, zurück­haltend und abwartend und bringen oftmals ihre Ängste vor dem Verlassensein den Erwachsenen gegenüber nicht zum Ausdruck, aus Angst, ein weiteres Mal ab- oder zurückgewiesen zu werden.

Bindung kann als ein imaginäres Band verstanden werden, das zwei Personen verbindet und das seinerseits in angenehmen Gefühlen verankert ist – als ein Erlebnis über einen längeren Zeitraum hinweg. Da sich Bindung erst im Laufe des ersten Lebensjahres eines Kindes entwickelt, werden Kinder im Laufe ihrer Entwicklung mehrere Bindungspartner suchen. Dabei ordnet jedes Kind die Bindungspersonen in einer »inneren Hierarchie« an, und je mehr es sich verlassen oder geängstigt fühlt, desto intensiver sucht es die Bindungsperson mit der höchsten Rangstufe. Dies ist entwicklungspsychologisch darauf zurückzuführen, dass Kinder (ganz besonders im ersten Lebensjahr) immer auf der Suche nach Sicherheit sind. Diese bildet die Grundlage für die gesamte Entwicklung eines Menschen. Glückliche Lebensmomente werden durch angenehme Sicherheitserlebnisse ausgelöst und aktivieren dabei stets das limbische System, jene Schicht des Gehirns, in der Gefühle verarbeitet werden. Fühlt sich ein Kind durch irgendetwas stark verunsichert, sucht es blitzschnell den Blickkontakt, die Nähe zu einem Menschen, von dem es weiß: »Hier kann mir nichts Unangenehmes passieren, weil ich bisher die Erfahrung gemacht habe: Dieser Mensch beschützt mich und sorgt stets für mein Wohlbefinden.«

Sichere Bindungen machen Kinder stabil und lernaktiv

Eine sichere Bindung kann aufgebaut werden, wenn Kinder schon sehr früh durch intensive Bindungserfahrungen immer weniger auf Bindungserlebnisse angewiesen sind. Dann können sie sich mit einem Gefühl der inneren Grundsicherheit auf die »Erkundung der großen, weiten Welt« einlassen und ihrem innewohnenden Forscherdrang nachgehen. »Sichere« Kinder berichten motiviert und freiwillig über ihre Gefühle und bringen emotionale Belastungen »ungehemmt und unkontrolliert« zum Ausdruck, genauso wie Augenblicke der Freude und des tiefen Glücksempfindens.

Kinder brauchen mehr und mehr Bindungserfahrungen

Wenn Bindungserfahrung bei Kindern (und Jugendlichen) vor allem ein Gefühl der tiefen Geborgenheit auslöst und gleichzeitig gegen Über- und Unterforderungen, Kränkungen und Hoffnungslosigkeit, Verlassenheitsängste und Ohnmachtsgefühle schützt, dann kann die Ausgangsthese des schwedischen Kindergarten- und Schulcurriculums nur mit großer Zustimmung aufgenommen werden: »Bildung geschieht nur durch Bindung.« Die pädagogische Praxis in Deutschland sieht leider anders aus. Bindungserfahrungen in der beschriebenen Ganzheit und Tiefe werden häufig nicht von Kindern erlebt. In den meisten Einrichtungen arbeitet man immer noch belehrend statt erfahrungsorientiert, künstlich strukturiert statt alltagsorientiert, hierarchisch vermittelnd statt gemeinsam erkundend, und Fächer isolierend statt ganzheitlich vernetzt. Kinder brauchen liebenswerte Mitforscher, geduldige und staunende Mitspieler und mitlernende, lernergriffene Erwachsene, die mit ihnen den Geheimnissen der unmittelbaren und weiten Welt auf die Spur kommen wollen.

Literatur: A. R. Damasio: Der Spinoza-Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, München 2003; K. Grossmann, K. E. Grossmann: Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit, Stuttgart 2004; A. Krenz: Kinder brauchen Seelenproviant, München 2009; G. Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt 2001

Zum Autor: Dr. Armin Krenz ist Dozent am »Institut für angewandte Psychologie & Pädagogik« in Kiel mit dem Schwerpunkt »Qualität und Professionalität in der Elementarpädagogik«. www.ifap-kiel.de