Das T persönlich kennengelernt

Siegmund Baldszun

Wir machen uns auf den Weg. Die letzten Häuser der Stadt liegen hinter uns. Über uns blauer Himmel. Vogelgezwitscher. Wir atmen frische Luft. Der Weg steigt langsam an: Kies, Steine, die Grasnarbe. Da ist er: der Wald. Mächtig aufragend, grün. Gewaltige Äste neigen sich beschützend zu Boden. Schon nimmt er uns auf. Eine andere Welt: kühl, feucht, erdig duftend. Es raschelt, klopft hie und da. Der Weg wird schmal, ein weicher Pfad führt fort. Wir bleiben stehen, treten an einen Baum.

Da, was ist das? Wer schleicht auf leisen Pfoten hinter uns her? »Eine Katze, grau-weiß gestreift, mit erhobenem Schwanz kommt sie des Weges. Von der anderen Seite ein Fuchs. Und so trug es sich zu, … dass die Katze im Walde dem Herrn Fuchs begegnete, und weil sie dachte, ›er ist gescheit und wohl erfahren, und gilt viel in der Welt‹, so sprach sie ihn freundlich an: ›Guten Tag, lieber Herr Fuchs, wie geht’s? Wie steht’s? Wie schlagt Ihr Euch durch in dieser teuren Zeit?‹

Der Fuchs, allen Hochmutes voll, betrachtete die Katze von Kopf bis zu den Füßen und wusste lange nicht, ob er eine Antwort geben sollte. Endlich sprach er: ›O du armseliger Bartputzer, du buntscheckiger Narr, du Hungerleider und Mäusejäger, was kommt dir in den Sinn? Du unterstehst dich zu fragen, wie mir’s gehe? Was hast du gelernt? Wie viel Künste verstehst du?‹ –

›Ich verstehe nur eine einzige‹, antwortete bescheiden die Katze. ›Was ist das für eine Kunst?‹, fragte der Fuchs.

›Wenn die Hunde hinter mir her sind, so kann ich auf einen Baum springen und mich retten.‹

›Ist das alles?‹, fragte der Fuchs. ›Ich bin Herr über hundert Künste und habe überdies noch einen Sack voll Listen. Du jammerst mich, komm mit mir, ich will dich lehren, wie man den Hunden entgeht.‹

Indes kam ein Jäger mit vier Hunden daher.

Die Katze sprang behend auf einen Baum und setzte sich in den Gipfel, wo Äste und Laubwerk sie völlig verbargen.

›Bindet den Sack auf, Herr Fuchs, bindet den Sack auf‹, rief ihm die Katze zu, aber die Hunde hatten ihn schon gepackt und hielten ihn fest.

›Ei, Herr Fuchs‹, rief die Katze, ›Ihr bleibt mit Euren hundert Künsten stecken. Hättet Ihr heraufkriechen können wie ich, so wär’s nicht um Euer Leben geschehen‹.«

(Märchen der Gebrüder Grimm)

Das Bild – das bildhafte Unterrichten – ist die Ur-Grundlage der Waldorfpädagogik. Es geht immer um das Bild des Menschen, methodisch und inhaltlich, bis hin zur Oberstufe in die 12. Klasse, wo in allen Fächern, das Bild des »Menschen in der Welt« als Motiv alle Stoffgebiete thematisch durchleuchtet. Es geht um die existenzielle Wirklichkeit der Bilder, nicht um sogenannte Anschaulichkeit. Katze und Fuchs sind keine reinen Phantasieprodukte, sie sind Bilder von menschlichen Seelenkräften. Und als erzählte Bilder sind sie gewissermaßen die äußere Erscheinungsseite eines Wesenhaften. Kinder leben in dieser Welt. Sie nehmen das Wesenhafte wahr. Und so kann es passieren, dass die kleine Sophie, die schon längst lesen und schreiben kann, in der 1. Klasse nach Hause kommt und gefragt wird: »Na, was habt ihr heute gelernt?« – »Die Lehrerin hat vom T erzählt.« – »Vom T? Aber du kannst doch schon lesen und kennst alle Buchstaben?!« – »Ja, aber heute haben wir das T ganz persönlich kennen gelernt!«

Bilder, wohin man schaut

Blickt man auf den Unterricht in Bezug auf Bilder und Bildhaftigkeit, so lassen sich drei Ebenen unterscheiden:

Da ist zunächst die Form, der Ablauf des Hauptunterrichts in der Klassenlehrerzeit von 8 bis 10 Uhr. Er hat einen Bewegungsteil, in dem der Bewegungs- und Sinnesmensch angesprochen wird. Danach folgt der Lern- oder Arbeitsteil, in dem mehr das Lernen, die Gedanken, das Gedächtnis angesprochen und geweckt werden. Und er klingt aus mit dem sogenannten Erzählteil, der alle Kinder im gemüthaften Erleben, im erzählten Bild zusammenbringt. Der ganze Unterricht in seinem Ablauf wird jetzt transparent für das zu Grunde liegende Bild: Kopf – Herz – Hand.

Die zweite Ebene betrifft den Inhalt der Bilder. In der 1. Klasse sind es die Märchenwelt und die Märchenbilder. In der 2. Klasse die Fabeln und Legenden. Sie haben einen deutlich gedanklicheren Charakter; sie repräsentieren Lebensweisheiten, die auch schon den Verstand der Kinder ansprechen. In der 3. Klasse ist es die Schöpfungsgeschichte, das gewaltige Tableau der Erschaffung der Welt. Es folgen der Ackerbau, Hausbau und die Handwerker-Epoche. Auch hier scheint wieder das Bild für das Ankommen auf unserer Erde auf, für das Ergreifen des Leibes, für das soziale Leben in der Hinwendung zum Du. Darüber hinaus werden alle Unterrichtstätigkeiten vor allem in der Unterstufe – vom Stricken bis zum Flöten – methodisch bildhaft eingeführt.

Und bis zur 12. Klasse kommen sie alle vor, die geschichtlichen Helden, Entdecker und Pioniere, die erzählend, biographisch, bildhaft vorgestellt werden, die großen Mythen und Bilder der Menschheit, vom platonischen »Höhlengleichnis« über das Faust-Problem des modernen Menschen in der technisch-medialen Zivilisation, bis hin zu den »neuen« Mythen und Metaphern: dem Netz, der Cloud, der Matrix …

Die dritte Ebene betrifft die Mittel, mit denen diese Bilder gestaltet, werden: eine bildhafte Sprache, eine andeutende, unterstützende Gestik und ein nach Jahreszeit und Epochenthema künstlerisch gestalteter Klassenraum.

Was ist das Bildhafte am Bild?

Bildhaft ist zunächst einmal die Schilderung des Lehrers, insofern sie charakterisiert, nicht definiert. Es wird erzählend – lautlich und gestisch – gestaltet, mit Bezug zu allen Sinnen. In diesem Sinne ist das Erzählen künstlerisch. Das braucht Zeit, Raum, Ruhe, Stimmung. Das schafft aber auch Zeit, Raum, Ruhe und Stimmung. Man sieht es unmittelbar in den Gesichtern der Kinder! Das definierende Erklären geht schnell, ist kopfig und intellektuell, will effektiv und eindeutig informieren, ohne große innere Beteiligung des Erzählers.

Dann ist da die Stufe des Bild-Aufbaus. Das Bild ist kein Foto, kein Abbild. Es baut sich auf. Es nimmt zwar bekannte Elemente aus der äußeren Sinneswelt, aber sie werden so zusammengestellt, dass eine höhere Ebene, ein höherer Sinn durchscheinen kann. Es wird dadurch transparent. Und es hat seine wahre Quelle nicht in der äußeren Welt, sondern in der Seele oder im Geist.

Es ging natürlich oben um Katze und Fuchs. Diese Tiere existieren, aber durch die Zusammenstellung der Fabel wird eine andere Schicht angesprochen. An einem Kunstbild von Franz Marc interessiert uns auch nicht der Farbpartikel, sondern die erzielte Aussage. In diesem Sinne ist das Bildhafte zeitorientiert, prozessorientiert. Es geht nie um platte Visualisierung; der Zuhörer ist mit seinem ganzen inneren Wesen angesprochen und am Prozess beteiligt. Das heißt, es baut sich innerlich etwas in der Seele auf, was Bildcharakter hat. Diese innere Aktivität wirkt unmittelbar auf die Lebenskräfte des Kindes.

Drittens kann man bemerken: Das Bild ist offen, multiperspektivisch, letztlich auch unausschöpflich in seinem Gehalt. Das gilt besonders für die großen, inspirierten Texte, Märchen und Mythen der Menschheit, aber auch für gut erzählte Biographien und geschichtliche Ereignisse. Und die Erfahrung zeigt: Bilder wachsen mit. Ich ändere mich, die Bilder ändern sich. Und so kann jeder – Erzähler wie Zuhörer – auf jeder Stufe das Bild immer auf ganz individuelle, persönliche Art auffassen.

Das Bild wirkt in diesem Sinne sozial integrierend, unabhängig vom intellektuellen Vermögen, es spricht unmittelbar aus sich heraus und vermittelt Erlebnisse, direkter als Worte es könnten. Jeder, der einen Traum erzählen will, kennt das. Ein weiterer Aspekt der Bilder ist ihr Kraftpotenzial. Echte Bilder wirken ungemein impulsierend auf Kinder. Bilder aktivieren Gemüts- und Willensprozesse. Sie führen zu Initiative und schöpferischem Tun, sie regen die Kreativität unmittelbar an. Das heißt, sie greifen unmittelbar ins Leben ein, stärker, intensiver, direkter als unsere intellektuellen Worte und Gedanken es vermögen. Sie wecken den inneren, den schöpferischen Menschen. Und da berühren sie salutogenetische Potenziale und idealische Kräfte, die für die ganze Biographie entscheidend wirken: »I have a dream!«

Und als letztes könnte man noch die verschiedenen künstlerischen Erscheinungsweisen, die Vermittler der Bilder betrachten. Besonders werden dabei das Auge und das Ohr angesprochen, aber eigentlich immer alle zwölf Sinne: So gibt es photographierte, gezeichnete, gemalte, erzählte, szenisch dargestellte, innerlich vorgestellte, geträumte, gedanklich imaginierte Bilder. Danach käme die Stufe des Bildlosen: reine Aktivität, rein geistiges Sein.

Die Bedeutung der Bilder für Erziehung und Unterricht

Woher kommt der immense Bildhunger der Menschen, woher die Wirksamkeit von Bildern? Ich möchte hier den Gesichtspunkt der »Nacht« ansprechen. In der Waldorfschule rechnen wir mit der Nacht. Wenn der physische Leib sich regeneriert und schläft, leben Seele und Geist bildlich gesprochen in den »tiefen Sternenräumen« einer anderen Welt, die aber ebenso real ist wie die äußere materielle Welt. Alle Nahtodeserlebnisse schildern das Betreten dieser Räume und Rudolf Steiner hat für die Lehrer in vielfältigster Art und Weise ihre Bedeutung charakterisiert. Das Kind nimmt vom Unterricht etwas mit in die Nacht. Das ist am nächsten Morgen methodisch zu berücksichtigen. Und die Waldorfpädagogik rechnet mit dem vorgeburtlichen Leben der Kinder (der »Himmelswiese«). Wir haben Individualitäten vor uns, keine unbeschriebenen weißen Blätter. Da ist ein »Jemand« im Kleide seines leiblichen Körpers. Und der physische Leib des Menschen, die äußere Erscheinung, sollte man als Lehrer nie verwechseln mit dem wahren Wesen des Kindes: Das Bild des äußeren Leibes sollte auch transparent werden können für die Wirksamkeit des Wesens, der Individualität.

Und diese Individualität, diese kreative, künstlerische, schöpferische Lebens-Erden-Kraft der Kinder will zunächst nicht abstrakt gedanklich angesprochen werden, nein, sie hat einen Hunger nach Bildern, weil sie einen Anknüpfungspunkt sucht, wie nach einem »Umzug« in eine andere »Wohnung«, der ihr vorhergehendes geistiges Erleben einbezieht. Das ist für sie aufbauende Nahrung.

Die moderne technisch-mediale Welt bietet der Seele immer weniger an echten Erlebnissen, an innerer Nahrung. Insofern hat Rudolf Steiner die Waldorfschule gerade für die Kinder unserer Zivilisation entwickelt: Die Waldorfschule antwortet auf den immensen Bildhunger der Kinder mit einem grundstürzend neuen Ansatz: dem künstlerischen, bildhaften Unterricht von Klasse 1 bis 12.

Was wären mögliche Gefahren für diese Art von Bildqualität? Oberflächlichkeit im Sehen, Hören und Sprechen, abstraktes Wissen, Beschränkung auf technische Reproduktion, Verlust von Muße und Gemüt. Hierzu ein Märchen von Günther Anders: »Da es dem König aber wenig gefiel, dass sein Sohn, die kontrollierten Straßen verlassend, sich querfeldein herumtrieb, um sich selbst ein Urteil über die Welt zu bilden, schenkte er ihm Wagen und Pferd. ›Nun brauchst du nicht mehr zu Fuß zu gehen‹, waren seine Worte. ›Nun darfst du es nicht mehr‹, war deren Sinn. ›Nun kannst du es nicht mehr‹, deren Wirkung.« (Aus dem Essay »Die Welt als Phantom und Matrize«). Der Umgang mit Bildern weckt schöpferische, idealische Kräfte, die für das ganze Leben eine Quelle der Kraft, der Gesundheit werden können.

In diesem Sinne heißt B I L D:

B   Bewegung anregen

I   Individualität ansprechen

L   Lebenskraft ernähren

D   Denken spiritualisieren

Zum Autor: Siegmund Baldszun ist Französischlehrer an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe; Lehrtätigkeit an der Freien Hochschule Stuttgart und Mannheim sowie an Fortbildungstagungen und an der »Semaine Française«. Der vorliegende Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Autor an einem Pädagogischen Wochenende im Januar 2014 gehalten hat.