Den Anderen verstehen. Von der Wirksamkeit der Erkenntnissinne

Peter Loebell

In jedem Gespräch setzen wir die Funktion des Seh- und des Hörsinns selbstverständlich voraus. Darüber hinaus nehmen wir die Äußerungen nicht nur als unbestimmte Laute und Bewegungen wahr. Vielmehr achten wir auf die Bedeutung, die uns der Sprecher vermitteln will. Aber darüber hinaus entsteht in der Begegnung von Menschen eine dritte Ebene, wenn wir durch den Gedankensinn die Intention einer Sprechhandlung wahrnehmen. In jeder Äußerung klingt ein Impuls mit, der mit der offensichtlichen Wort- oder Satzbedeutung häufig nicht zusammenfällt. Durch Wortstellung, Intonation und Rhythmus kann eine Aussage zum Beispiel tastend, fragend, bekräftigend, drohend oder auch ironisch erscheinen. Die drei genannten Ebenen des Sprachgebrauchs charakterisiert Rudolf Steiner als »Nachahmung« der physischen Sprachorgane (Hörsinn), »Symbolik« der bildenden Lebenskräfte (Sprachsinn) und ein »Umgießen des Affektes in den Laut« als Wirkung des Seelischen (Gedankensinn). Es ist ungewöhnlich, dass den genannten Ebenen drei verschiedene Sinnesmodalitäten zugeordnet werden. Tatsächlich ist heute aber bekannt, dass Menschen Sprache mit ihrem ganzen Bewegungssystem wahrnehmen: Ein Hörer bewegt seinen ganzen Körper fast synchron zur artikulierten Wortstruktur eines Sprechers. Diese Reaktion tritt bereits bei Neugeborenen auf, aber nur beim Hören von Sprache und nicht bei anderen Geräuschen, so dass die Existenz des Sprachsinns heute nicht mehr zu bezweifeln ist.

Der Gedankensinn richtet sich auf die Intention eines Sprechers. Im obigen Beispiel aus Charles Dickens’ Erzählung ist es eindeutig, dass die Pensionswirtin eine Frage stellt (»was möchtest du?«) und daher eine Antwort erwartet. Aber wir verstehen auch mühelos, wenn durch die Frage tatsächlich eine Aufforderung ausgedrückt wird (»kannst du bitte das Fenster schließen?«). Für das, was ein Sprecher erreichen will, indem er etwas ausspricht, verwendet J. L. Austin in seiner Sprechakttheorie den Begriff »Illokution«. Wenn sich etwa eine Lehrerin durch die Schülerfrage »Wozu soll Eurythmie gut sein?« provoziert fühlt, kann sich der Sprecher leicht auf die Position zurückziehen, indem er den Satz gesagt habe, habe er ja nur eine Frage gestellt.

Aber dadurch, dass er seine Äußerung getan hat, ist es dem Schüler gelungen, die Lehrerin zu provozieren. Diese Bedeutungsebene bezeichnet die Sprechakttheorie als »Perlokution«. Sie entspricht dem von Steiner so genannten Ichsinn. In Dickens’ Erzählung erfasst der Leser, dass Mrs. Tibbs etwas anderes von ihrem Mann erwartet als eine Antwort. Da er ihre eigentliche Absicht nicht versteht, kommt es zwischen den Eheleuten zu einem bedauerlichen Missverständnis. Er deutet ihren drohenden Blick falsch und erwidert: »Ich bitte um – um ein wenig Fisch.« Seine Frau versucht noch einmal, ihn unauffällig, »mit verstärktem Stirnrunzeln«, zu dirigieren: »Sagtest du Fisch, lieber Mann?« Spätestens hier hätte er wissen können, was seine Frau von ihm erwartet. Aber seine Reaktion ist ein deutlicher Hinweis auf die mangelnde Funktion seines Ichsinns: » ›Ja, meine Liebe‹, antwortete der Ruchlose, während sich nagender Hunger in seinen Mienen ausdrückte. Mrs. Tibbs traten fast die Tränen in die Augen, als sie ihrem ›Schlingel von Manne‹, wie sie ihn innerlich nannte, das letzte Stück Lachs von der Schüssel reichte« und sogleich eine »wohlüberlegte Rache« in die Wege leitet.

Der Ichsinn ermöglicht ein Verständnis, das auf die Individualität des Gegenübers selbst zielt: »… ein noch intimeres Verhältnis zur Außenwelt als der Denksinn gibt uns derjenige Sinn, der es uns möglich macht, mit einem anderen Wesen so zu fühlen, sich eins zu wissen, dass man es wie sich selbst empfindet. Das ist, wenn man … durch das lebendige Denken, das einem das Wesen zuwendet, das Ich dieses Wesens wahrnimmt – der Ichsinn.« Dieser wirkt dadurch, dass sich der Hörer in die Intention des Sprechers nachahmend einlebt und sich dann in einer Gebärde der Selbstbehauptung zurückzieht – ein unbewusster Wechsel von Hingabe und Distanz, um die Einzigartigkeit einer individuellen Äußerung zu verstehen.

Ein Gespräch lebt von Imponderabilien. Äußerungen werden tastend vorgebracht, Bedeutungen und Absichten stehen im Dienst einer tieferen Erfahrung des Gegenübers. Diese Wahrnehmung mag sich zunächst vor allem einem intuitiven Verständnis erschließen. Aber die entsprechenden Merkmale lassen sich mit Hilfe der Sprechakttheorie systematisch beschreiben: Ich höre den Klang der Worte (»Äußerungsakt«), verstehe die Bedeutung (»Proposition«), erkenne die Intention (»Illokution«) und erschließe das, was mein Gegenüber eigentlich durch das Sagen des Gesagten in einem bestimmten Kontext ausdrücken will (»Perlokution«).

Aber die letzte Ebene erschließt sich nur, wenn der Hörer mitwirkt, um das veranlagte Ziel der Sprechhandlung möglich zu machen, auch dann, wenn der Sprecher selbst es noch gar nicht in seiner vollen Tiefe ausgelotet hat. So sprechen wir manchmal etwas aus, von dem wir selbst in diesem Moment nicht wissen, ob wir es wirklich meinen – wir »hören uns etwas sagen«; vielleicht bedauern wir es im gleichen Moment. Der Ichsinn kann es dem sensiblen Hörer ermöglichen, die innere Suchbewegung einer Individualität zu erfassen und behutsam auf das zu reagieren, was »zwischen den Zeilen« mitschwingt.

Literatur: John Langshaw Austin: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1972; Charles Dickens: Die Pension. In: Ders.: Horatio Sparkins und andere Erzählungen aus den »Londoner Skizzen«. München 1981; Peter Loebell: Gemeinschaftsbildung im Konferenzgespräch. Von der Bedeutung des Zuhörens; in: Hartwig Schiller (Hrsg.): Innere Aspekte der Konferenzgestaltung; Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben 2001, S. 86-130; Rudolf Steiner: Metamorphosen des Seelenlebens – Pfade der Seelenerlebnisse (GA 59). Dornach 1984; Vortrag vom 20. Januar 1910 »Die Geistes­wissenschaft und die Sprache«