Deutsch lernen in Amerika

Mihály Hevesi | Frau Orlik-Walsh, wie ist die Gründungsgeschichte ihrer Schule?

Margarete Orlik-Walsh | Ann Arbor wurde im frühen neunzehnten Jahrhundert von Schwaben aufgebaut, also noch vor dem amerikanischen Bürgerkrieg. Kinder sagen: »Ja, meine Oma hat auch Deutsch gelernt, und sie hat noch Deutsch gesprochen.« Unsere Schule wurde vor 35 Jahren von Peter Gobel mitbegründet, der in Stuttgart am Lehrerseminar war.

Er brachte als Amerikaner sehr viele Beziehungen zu Stuttgart und zu Deutschland mit. Viele Menschen aus Deutschland haben unsere Schule mit aufgebaut. Außerdem gab es eine zweite Mitbegründerin, Ruth Nilson, die aus Norwegen kam, und sie liebte die deutsche Sprache. Und ich unterrichte seit 21 Jahren Deutsch an dieser Schule.

MH | Sprechen diese Kinder noch Deutsch?

MOW | Die Kinder haben oftmals noch eine innere Beziehung zu dieser Sprache, sprechen aber zu Hause nicht mehr Deutsch. Wir unterrichten an unserer Schule mittlerweile drei Fremdsprachen. Zuerst war es Französisch und Deutsch, die Französischlehrerin konnten wir nicht ersetzen, daraufhin suchten wir jemanden, der Spanisch unterrichtet. Vor zwei Jahren kam noch die Staatssprache Chinesisch, also Mandarin dazu.

MH | Wie kam es dazu?

MOW | Unser Bund, Association of Waldorf Schools from North America (AWSNA), hat uns bei unserer, alle fünf Jahre stattfindenden Bewertung vorgeschlagen: »Ihr solltet eine größere kulturelle Spannbreite an eurer Schule haben. Schaut euch an, wer an eurer Schule ist, welche Religionen, welche ethnischen Gruppen vertreten sind und tragt denen im Lehrplan Rechnung.« Diese Empfehlung haben wir aufgegriffen.

MH | Ist es nicht schwierig für die Kinder, gleich drei Fremdsprachen zu lernen?

MOW | Wir unterrichten in vierwöchigen Epochen, mit jeweils vier Wochenstunden. Also vier Wochen lang haben die Kinder eine Spanischepoche, dann vier Wochen lang eine Deutschepoche und dann noch eine chinesische Epoche.

MH | Wie sind Ihre Erfahrungen mit dem epochalen Fremdsprachenunterricht?

MOW | Bestens! Die Anregung, in Epochen zu unterrichten, kam von Uta Taylor-Weaver. Uta hatte den Epochenunterricht schon mehrere Jahre an der Garden City Waldorf School in New York praktiziert.

Es wurde durch diesen Epochenunterricht auch möglich, den Stundenplan ganz rhythmisch und vorhersehbar zu gestalten. Die erste Klasse hat zum Beispiel immer um die gleiche Zeit den Fremdsprachenunterricht. Das stärkt die Kinder, weil das in die Gewohnheit übergeht. Die Übergangszeit zur anderen Sprache beträgt vielleicht eine halbe Unterrichtsstunde. Es geht ganz schnell, weil die Kinder ja die Sprachen mit den verschiedenen Lehrern assoziieren.

MH | Für jede Klassenstufe werden Sprachen epochal unterrichtet?

MOW | Für alle, ja, selbst für den Kindergarten.

MH | Wie viele Fremdsprachen-Epochen hat dann eine Klasse im Schuljahr?

MOW | Wir haben insgesamt zehn Epochen.

MH | Wie viele Unterrichtstunden bedeutet das für den Deutschunterricht?

MOW | 64 Stunden im Jahr. Das machen mittlerweile viele Schulen in den USA, weil wohl sehr viele Kollegen herausgefunden haben, dass dieser rhythmisch gestaltete Stundenplan den Schülern sehr hilft und auch uns, den Lehrern. Als wir damals noch in dem alten System unterrichteten (zwei Unterrichtsstunden pro Sprache pro Woche), fiel so manches nachmittags aus, mal war ein kleines Fest, mal ging das Kind zum Zahnarzt. So hatten die Kinder oft nur eine Stunde in der Woche und da kam nicht viel zustande, der Lernprozess war ständig unterbrochen. Epochaler Unterricht dient den Schülern, dient den Lehrern.

MH | Wie macht man Deutsch in den USA beliebt?

MOW | Anfangs war es für mich schon schwierig, denn Kinder haben mich gefragt, ein Mädchen zum Beispiel: »Frau Walsh, are you also a Nazi?« Uta Taylor-Weaver hatte mich schon darauf vorbereitet: »Du musst dir überlegen, wir bringen immer die deutsche Geschichte mit uns mit, egal wo wir hingehen und sei darauf gefasst, dass dich die Kinder und die Eltern unter Umständen angreifen werden oder zumindest hinterfragen.« Und dann fragte ich das Mädchen, es war in der dritten oder vierten Klasse: »Und was denkst Du?« »No, you aren’t a Nazi!« war die Antwort.

Die Kinder mögen die deutsche Sprache, weil sie sich anders anfühlt, weil dieser Willensimpuls in dieser Sprache lebt. Klar die Konsonanten zu sprechen, das ist eine ganz andere Aufgabe, als wenn man Spanisch spricht. Das deutsche P, das T und das K, das lieben die Kinder. »Pampelmusensalat«, ein Gedicht von Hans Adolf Halbey, das vom Inhalt her nicht so sehr anspruchsvoll ist, aber meine Achtklässler sagen das fast routinemäßig. Und die Kinder sagen ja auch: »Deutsch schmeckt anders!« Überhaupt werden die Sprechwerkzeuge ganz anders angesprochen. Die Kinder merken, wie sie anders atmen und sich sprachlich so richtig ins Zeug legen dürfen. Auch die Perspektive, als Oberstufenschüler vielleicht in ein deutschsprachiges Land zum Austausch zu gehen, macht Deutsch für viele Schüler oft schon ab der fünften Klasse attraktiv. Wir haben ein sehr aktives Austauschprogramm mit mehreren Waldorfschulen in Deutschland und Österreich.

MH | Wie sieht es mit dem Abitur an Ihrer Schule aus?

MOW | Wir haben nach der zwölften Klasse keine große Prüfung. Die Oberstufenschüler bekommen nach jeder Epoche ihre Credits, eine Art Beteiligungsschein, wo auch aufgelistet ist, wie sie in der jeweiligen Epoche teilgenommen haben, wie ihre Leistungen sind. Und das wird ganz individuell für jeden Schüler erstellt. Noten gibt es keine, hat es bei uns in der Schule noch nie gegeben. Das ist aber nicht überall der Fall. Manche Waldorfschulen in den USA geben in der Oberstufe durchaus Noten. Wenn sich dann unsere Schüler während des zwölften Schuljahres an einer Uni bewerben, legen sie diese Zettel mit den Credits vor und werden mit Handkuss genommen. Sie haben ein sehr hohes Niveau. Diese Institution, das internationale Bakkalaureat, das Abitur eben, gibt es an einigen Privatschulen, bei uns aber nicht. Es gibt Tests, die die Studierfähigkeit testen, die können die Schüler machen, aber das gehört dann zum außerschulischen Bereich. Manche machen sie, manche machen sie nicht. Es kommt auch darauf an, wo man sich bewerben möchte.

Das Gespräch führte Mihály Hevesi, Herausgeber von linguaw.com (Zeitschrift für Fremdsprachenlehrer an Waldorfschulen); er ist Fremdsprachenlehrer in Ungarn, Österreich und Deutschland.