Die Sinnesorgane der Seele

Olaf Koob

Ähnlich wie Plus und Minus in der Elektrizität, Sympathikus und Parasympathikus im vegetativen Nervensystem oder Einatmung und Ausatmung, besitzen wir auch zwei elementare antagonistische Kräfte in unserem Seelenleben. Wie ein Fluss, der aus unbekannten Tiefen entspringt und dann sichtbar eine bestimmte Richtung einschlägt, so kommt aus einer uns zunächst unbekannten seelischen Quelle, die wir als »Begehren«, als »Lust oder Unlust auf Welt« bezeichnen, eine Kraft zum Vorschein, die dann im weiteren Verlauf in ein festes Urteil oder eine Vorstellung von Welt und Mensch mündet. Eine geisteswissenschaftlich erweiterte Psychologie sieht das gesamte Seelenleben aus den elementaren Kräften von Begehren sowie Sympathie (Liebe) und Antipathie (Hass) gebildet, die uns zu fertigen Urteilen oder konkreten Vorstellungen führen.

Die ganz persönliche Sympathie und Antipathie ist die Quelle unseres Interesses oder Desinteresses und mündet in das mehr »objektive« Urteil oder in die Vorstellung, dass der Himmel blau ist oder die Rose rot. Wir müssen Sympathie und Antipathie als wesentliche, sogar unser Schicksal bestimmende Faktoren im Leben anerkennen, als Faktoren, die wir auf die Erde mitbringen und die tief in unserem Gemüt verankert sind.

Das Tier in uns

Gibt es für die zwei archetypischen Seelenkräfte von Sympathie und Antipathie ein Modell, das sie uns besser begreiflich machen kann? Ja: Es sind die Tiergruppen, die mit ihrem instinktiven Seelenleben und mit ihren sympathischen oder antipathischen Gewohnheiten fest in der Welt verankert sind: durch Nahrungsgewohnheiten, Landschaft, Klima, seelische Reaktionen. Das macht ihre Bestimmung aus! Aus diesen leiblich-seelischen Mustern können sie sich nicht oder nur minimal heraus entwickeln.

Diese instinktiv verborgene »Tierheit« im menschlichen Gefühlsleben, diese zunächst dumpfe Prägung, die zu reflexartigen Urteilsmustern führt, muss aber beim Menschen, sofern er sich entwickeln will, mit Bewusstsein durchdrungen und verwandelt werden, ohne dass Sympathie und Antipathie verschwinden. Sind sie doch die irdisch-seelischen »Angelhaken«, der seelische »Hunger und Durst«, mit denen wir in eine Beziehung oder Nicht-Beziehung zur Welt treten. Werden sie allein von Kindheits-Mustern, von frühkindlichen Fremdprägungen bestimmt, dann können sie Hindernisse sein, die unser Erkennen über den wahren Wert von Mensch und Welt behindern.

Der erotische Angelhaken

An Erotik und Liebe lässt sich leicht erklären, was hier gemeint ist: Erotik ist der sympathische »Angelhaken«, der uns auf jemanden aufmerksam werden lässt. Wir haben berauschende Empfindungen, sobald wir den geliebten »Gegenstand« erblicken. Doch bei genauerer Betrachtung können wir bemerken, dass wir erst einmal nur unsere eigenen Gefühle lieben, die uns der andere beschert – also uns selber – und noch nicht den anderen Menschen. Das ist erst durch einen Erkenntnisakt möglich, zu dem die Sympathie zwar den Weg bahnt, die uns aber noch nichts über den anderen Menschen selbst verrät! So konnte Rudolf Steiner in seiner »Philosophie der Freiheit« (1894) provokant formulieren: »Der Weg zum Herzen geht durch den Kopf. Davon macht auch die Liebe keine Ausnahme. Wenn sie nicht die bloße Äußerung des Geschlechtstriebes ist, dann beruht sie auf den Vorstellungen, die wir uns von dem geliebten Wesen machen. Und je idealistischer diese Vorstellungen sind [das heißt, je bewusster wir den anderen wahrnehmen, d.V.], desto beseligender ist die Liebe.«

Liebe bedeutet nicht: alle Grenzen niederreißen

Das sich erweiternde Bewusstsein in der Liebe macht uns also sehend und nicht blind. Gerade auf diesem Gebiet waltet die größte Erwartung, aber auch die größte Desillusionierung: Was ist, wenn das Gegenüber anders empfindet, denkt, oder anders als erwartet reagiert? Hängt an dieser Einmütigkeit der Empfindungen das ganze Lebensglück? Geht es nicht vielmehr um seelische Eigenständigkeit, wie sie schon Rilke in seinen Briefen über Freundschaft und Ehe formulierte oder wie sie moderne Ehetherapeuten empfehlen? Rilke jedenfalls war der Meinung, Partnerschaft bedeute nicht, durch »Niederreißung ... aller Grenzen« eine rasche Gemeinsamkeit zu schaffen, »vielmehr ist eine gute Ehe die, in welcher jeder den anderen zum Wächter seiner Einsamkeit bestellt und ihm dieses größte Vertrauen beweist, das er zu verleihen hat.« Auch zwischen den nächsten Menschen können Abgründe bestehen. Aber es kann ihnen nach Rilkes Auffassung ein wundervolles Nebeneinanderwohnen erwachsen, wenn es ihnen gelingt, die Weite zwischen sich zu lieben, die ihnen die Möglichkeit gibt, einander immer »in einer ganzen Gestalt und vor einem großen Himmel zu sehen« (Rainer Maria Rilke, Brief vom 17.8.1901 an Emanuel von Bodman).

Sympathie und Antipathie sind Sinnesorgane

Weil Sympathie und Antipathie nichts über die Sache als solche aussagen, sondern nur über die Beziehung, die ich persönlich zu einer Sache oder zu einem Menschen habe, werden sie zu Sinnesorganen, aber nicht zu Erkenntnis­organen für die Welt. Lassen wir unsere Welt- und Menschenerkenntnis nur aus unseren persönlichen Sympathien oder Antipathien fließen, so drängen wir uns den Dingen auf und stellen nicht die Sache, sondern uns selbst in den Vordergrund. Dann wird aus einem vorschnellen, aus Sympathie oder Antipathie geborenen Urteil das Vorurteil. Es ist das bekannteste Hindernis im Verhältnis von Mensch zu Mensch, von Nation zu Nation. Eine Wahrnehmung wird umso »reiner«, je mehr wir uns um Urteilsaskese bemühen. Denn was wir normalerweise als »objektive Wahrnehmung« bezeichnen, ist meist eine Mischung von Sinneseindrücken und Sympathie oder Antipathie. Gerade im Miteinander ist diese Erkenntnis heute von ungeheurem Wert, da wir Menschen unsere Meinungen und Gefühle mehr lieben als die Tatsachen selber. Will man aber zu einem wahren Verständnis und einer wirklichen Menschenerkenntnis kommen, bleibt einem nichts anderes übrig, als vorgefasste Meinungen systematisch in sich zu bekämpfen und somit wirkliches Menscheninteresse zu entwickeln. »Don’t judge, just observe« (urteile nicht, sondern beobachte nur), sagt ein weises englisches Sprichwort, das zum Leitsatz der Sozialkunde werden könnte, um damit zum Verständnis und Frieden unter den Menschen beizutragen.

Die Aufgabe: nicht werten

Werfen wir noch einen kurzen Blick auf eine junge Wissenschaft, die sich als »Angewandte Bewusstseinswissenschaft« bezeichnet. Obwohl »Bewusstsein« ein Sammelbegriff für alle möglichen Seeleneigenschaften ist, erkennt man in diesem Wissenschaftszweig immer mehr, dass das Bewusstsein einen der höchsten Werte für den Menschen darstellt und entscheidend für die ganze Lebensqualität ist.

Der Blick richtet sich in dieser Disziplin nach innen und wendet exakte Methoden (wie in der Naturwissenschaft) auf die inneren Vorgänge der Seele an. Auch hier kann der feinfühlige Dichter Rilke als Ausgangspunkt dienen: »Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen«, so heißt es in einem seiner Gedichte. Von diesem Gedanken aus richtet sich der Blick auf den inneren Menschen, um »die Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten des Weltinnenraums zu ergründen, wie wir es in den Naturwissenschaften mit der Außenwelt getan haben« (Thilo Hinterberger in Co-med). Das, was wir wahrnehmen, ist schon ein konstruiertes und bereits interpretiertes Abbild einer Außenwelt, die aus der Sicht einer anderen Person durchaus anders aussehen kann. Hier kommt nun die zweite und entscheidende Stufe des Bewusstseins ins Spiel: Es ist das Wissen um sich selbst! Dieses Wissen um sich selbst gilt es bei allen Wahrnehmungen und Urteilen zu berücksichtigen.

Es ist eine der zentralen Fragen von Sympathie und Anti­pathie: Wie kommen wir zu einem nicht wertenden Gewahrsein des augenblicklichen Geschehens, das es uns ermöglicht, alte, bekannte Dinge in einem neuen Licht zu sehen? Drei wichtige Erfahrungen sind es – wir könnten sie auch Übungssituationen nennen –, wo sich die moderne Bewusstseinswissenschaft und die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft berühren:

1. Die Neutralität gegenüber einer Lebenssituation oder einem Menschen, die Urteilsaskese.

2. Dieses Bemühen verleiht uns eine »Beobachtungsperspektive« unserem eigenen Denken gegenüber und lässt uns den eigenen Drang nach Beurteilung und Bewertung erkennen. »Was nicht bewertet werden muss, kann gefahrlos angenommen und in Freiheit geliebt werden« (Hinterberger).

3. Eine nicht wertende Haltung befreit auch unser Aufmerksamkeitssystem. Die Aufmerksamkeit muss nicht mehr jedem Eindruck von außen und jedem »Gedankenstrom« nachjagen, sie kann sich immer mehr auf das innere Erleben richten und dadurch das Bewusstsein von einer Sache erweitern und vertiefen. Wir könnten dies auch als die Bekämpfung der Oberflächlichkeit in unserer Seele bezeichnen, die sehr oft durch reine Sympathie und Antipathie bedingt ist.

Das Gemüt ist Ergebnis unserer emotionalen Erziehung

Sympathie und Antipathie sind Seelenaugen, mit denen wir individuell eine Beziehung zu unserer Umwelt und unseren Mitmenschen aufnehmen. Sinnes- und Seelenorgane sind zwar von Natur aus angelegt, müssen aber von früh auf ausgebildet, geschult und gepflegt werden.

In der deutschen Sprache kennen wir einen Begriff, der nicht in andere Sprachen übersetzbar ist und der mit unserem Seelenkern und mit unserer Weltbeziehung zu tun hat: das Gemüt. Es beinhaltet die Fähigkeit der Hingabe an die Welt, den Willen unserer Seele, sich auf die Welt gefühlsmäßig einzulassen. Sind wir mit unserer Umgebung in Übereinstimmung, dann ist es uns in der Welt »gemütlich«. Diese emotionale Erziehung wird aber in der modernen Pädagogik sträflichst zu Gunsten der kognitiv-intellektuellen vernachlässigt. Wie können wir mithelfen, dass sich diese Sinnesorgane gesund entwickeln und das Kind schon früh eine Sympathie für das moralisch Gute und Förderliche ausbilden kann und das Schlechte und Verwerfliche instinkt­sicher ablehnt, ohne dass man ihm ausgedachte Verhaltensmuster beibringt? Mit dem Intellekt ist das nicht möglich. Dazu müssen andere Kräfte in der Seele mobilisiert werden. Mythen und Märchen, aber auch Erzählungen von selbst Erlebtem wirken direkt in die leiblich-seelischen Verhältnisse hinein und nähren dort die seelischen Instinkte unseres mora­lischen Handelns.

Literatur: Christa Meves: »Gemütsverkümmerung beim modernen Menschen«, In: Johannes Schlemmer (Hrsg.): Die Verachtung des Gemüts. Argumente für eine neue Wertung, München 1974

Rainer Maria Rilke: Briefe. Brief 9 vom 17.8.1901 an Emanuel von Bodman, Wiesbaden 1950

Rudolf Steiner: Wie kann die seelische Not der Gegenwart überwunden werden? Soziales Menschenverständnis-Gedankenfreiheit-Geist-Erkenntnis. Vortrag in Zürich am 10.10.1916 in GA 168

Thilo Hinterberger: Angewandte Bewusstseinswissenschaften in Theorie und medizinisch-therapeutischer Anwendung. Co-med. Das Fachmagazin für Complementär-Medizin, Nr. 9/2011