Herde oder Held. Jugendliche zwischen Individualisierung und Anpassung

Mathias Wais

»Wie bitte?« Julian war offensichtlich empört. Ich war wohl zu weit gegangen, als ich sagte: »Keiner ist normal.« – »Was wollen Sie damit sagen? Dass ich nicht normal bin?«

Nein, das wollte ich nicht sagen. Was ich zum Ausdruck bringen wollte in dem Gespräch mit Julian war dies: Dass jeder ein Recht auf Individualität hat. Aber augenscheinlich hatte ich mich in der Formulierung vergriffen, jedenfalls eine empfindliche, wenn nicht wunde Stelle bei Julian getroffen. Er war in die Sprechstunde der Jugendberatung gekommen, nachdem er seit Monaten von einer Clique in seiner Klasse im Gymnasium gemobbt worden war. Er entfloh dem zunehmend durch Schwänzen und Kiffen.

Zu Hause verschloss er sich immer mehr. Seine neue »Familie« wurde die Kifferszene hinter dem Sportplatz.

»Tut mir leid. Ich wollte dich nicht ärgern. Trotzdem: Darf ich dir eine provozierende Frage stellen?« Julian brummte etwas Zustimmendes. »Warum willst du normal sein?« Er sah mich verblüfft an. »Ich bin nicht normal«, sagte er. Dann stutzte er, wir mussten beide lachen. Die Spannung löste sich auf und nun fand ich mich in einem Gespräch wieder, in dem der Erwachsene das Recht auf Individualität vertrat und der Jugendliche die Bedeutung der Gemeinschaft mit ihren Werten und Normen. Wir einigten uns schließlich darauf, dass »normal« ist, wenn man sich einfach nur unkritisch anpasst. »Also ist Anpassung schlecht?«, fragte Julian, und fuhr fort: »Das ist es ja. Passt du dich nicht an, wirst du gemobbt; passt du dich zu offensichtlich an, wirst du auch gemobbt.« Jede Gemeinschaft (Familie, Schulklasse, Clique) ist ungnädig, aber auch ambivalent bezüglich der Individualität(en) ihrer Mitglieder. Sie fordert Anpassung an ihre Werte und Normen. Das ist in der Kiffer-Clique nicht anders als in der Familie. Andererseits stimuliert sie manchmal Individualität oder jedenfalls Besonderheit: Der Sohn soll »normal« sein, sich in die Wertewelt seiner Herkunftsfamilie einfügen, er soll aber auch, sagen wir, ein herausragender Sportler werden und insofern nicht »normal«.

Umgekehrt ist auch die Individualität ambivalent gegenüber der Gemeinschaft. Der Einzelne braucht die Gemeinschaft als Schutz und Bestätigung; er will sich aber auch von ihr abgrenzen, insofern er eben individuell sein möchte. Was hat Priorität? Der Einzelne oder die Gemeinschaft?

Rudolf Steiner beschreibt mit seinem »soziologischen Grundgesetz« (das in Zusammenhang mit seinen Dreigliederungsbemühungen formuliert wurde und insofern in einen umfassenderen Rahmen gehört) in sehr treffender Weise auch das Thema des Jugendlichenalters: »Die Menschheit strebt im Aufgange der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.« Wohl in keiner anderen biographischen Phase wird die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, die dieser Satz zum Ausdruck bringt, derart deutlich und heftig erlebt wie im Jugendalter.

Abgrenzen und wissen, was ich nicht bin

In der Kindheit gab es die Frage nach der eigenen Individualität als Bewusstseinsgegenstand nicht. Die eigene Person war mit Selbstverständlichkeit in die Familie eingebettet und in ihr aufgehoben. Jeder war normal. Zwar zeigte Onkel Herbert manchmal schrullige Eigenarten, aber diese wurden additiv zu seiner Normalität gesehen. Mit der Pubertät taucht die Frage »Wer bin ich selbst?« als Bewusstseinsgegenstand erstmals auf, und zwar bekanntlich weniger als Gegenstand gepflegter Reflexion, sondern als heftiger Impuls, die eigene Individualität zu suchen, zu entwickeln, gegebenenfalls auch durchzusetzen. Diese Suche beginnt mit der Geste der Abgrenzung, zunächst von den Eltern, dann von den Lehrern, von den Werten und Normen, in denen man aufgewachsen ist. Abgrenzung ist die elementarste Geste des »Ich«. Bevor ich weiß, wer ich bin und was ich will, weiß ich – und zwar mit Vehemenz –, was ich nicht bin und was ich nicht will.

Ich orientiere mich also weg von der Familie, aber hinein in andere »Familien«: die Clique, die örtliche »Szene«, eine möglichst radikale politische Gruppierung. Die eine Anpassung wird durch die andere ersetzt. Und dies häufig wechselnd. Die Suche nach der eigenen Individualität beginnt mit transitorischen Identifikationen mit Gruppen oder Gruppennormen, die so deutlich wie möglich anders sind als die Herkunftsfamilie. Dass der Jugendliche auf diese etwas angestrengte Weise sein Eigensein sucht und es zur Schau stellt, bevor er sich dessen sicher ist, gehört zu unserem Bild vom Jugendlichen. Dass er dabei und dafür aber auch Gemeinschaft, ja, die Gesellschaft sucht, sollten wir nicht übersehen.

Es ist für uns Ältere leicht, die Stirn in Falten zu legen und Bedenken zu haben angesichts solcher »sozialen« Netzwerke wie Facebook. Die Oberflächlichkeit solcher Unternehmungen ist ja nicht zu übersehen. Da werden »Freunde« gesammelt wie man CDs sammelt. Freundschaft to go. Und weil in einer solchen »Gemeinschaft«, in die man mit einem Mausklick »geadded« wird, für einander keine Verantwortung getragen wird, machen wir uns Sorgen, was hier wohl über Gemeinschaft gelernt wird. Es geht nur ums Dabeisein, nicht um Inhalte oder Werte. Gemeinschaft light. Aber so eindimensional ist die soziale Entwicklung nicht. Zum einen können wir in solchen »Sozialen Netzwerken« den Ausdruck eines Bedürfnisses nach Gemeinschaft sehen. Zum anderen erleben wir bei der Facebook-Generation auch dies: Julian arbeitet in den Sommerferien ehrenamtlich in einer Behindertenwerkstatt. Alexander geht samstags einkaufen für die älteren Menschen in seinem Viertel. Joanna liest regelmäßig einer blinden Nachbarin vor. Niemand hat diese Jugendlichen dazu aufgefordert. Justus engagiert sich in der Jugendgruppe des örtlichen DRK. Michaela ist Projektleiterin beim NABU. Alle sind bei Facebook, weil eben alle bei Facebook sind, und derjenige, der es nicht ist, ist ein Fossil.

Auseinandersetzen und zu Eigen machen

Was ist überhaupt das »Lernziel« dieser spannungsvollen Entwicklungsphase? Wann hat man es erreicht? Ist der Erwachsene »fertig« mit dem Thema Individuum versus Gemeinschaft, wenn er einen Beruf, eine Familie, ein Eigenheim hat? Ziel kann ja weder die vollständige Anpassung sein noch das renitente und plakative Eigensein. Es gibt ein Drittes: »Der Grundnerv allen sozialen Lebens ist das Interesse von Mensch zu Mensch« (Steiner). Die reife, aber nie abgeschlossene Version des Spannungsfeldes Individuum versus Gemeinschaft ist das Interesse an der Individualität des Anderen. Heißt: Die Frage »Wer bin ich? Wer kann ich sein? Wer will ich sein?« beantwortet sich schlicht aus der entgegengesetzten Frage: »Wer bist du? Wer kannst du sein? Wer willst du sein?«

Es ist nicht nötig, dies einem Jugendlichen wie Julian vorzugeben: Wir sehen, wie er selbst dahin kommt. Jugendliche haben ein besonderes Auge für außergewöhnliche Menschen oder Menschengruppen, für Außenseiter, für Benachteiligte, Gestrauchelte, natürlich auch für Stars. Albert Schweitzer als Vorbild ist out. Aber dass Madonna Kinder adoptiert, kann Interesse wecken. Jugendliche können sehr wohl ein großes Interesse an der Individualität des Anderen haben, solange es nicht der Vater, die Mutter, Tante Erna oder der Lehrer sind. Diese werden in ihrer Rolle als Vertreter überkommener Normen gesehen (und meist sind sie das ja auch). Sie suchen eine Antwort auf ihre Frage »Wer bin ich?« bei außergewöhnlichen Menschen. Die eigene Individualität brütet man ja nicht im stillen Kämmerlein aus (auch wenn der eine oder andere, überfordert oder tief verletzt und unverstanden zu Hause am PC versinkend, darauf hofft). Individualität entwickelt sich in einem Prozess der Aneignung, das heißt der Auseinandersetzung mit dem eigenen und fremden Lebenskontexten.

Aneignung und Auseinandersetzung heißt nicht: einfach übernehmen, heißt nicht Anpassung oder gar Unterordnung. Aneignung bedeutet: Ich mache mir das, was ich erlebe, was ich finde, zu Eigen, also zu meinem Eigenen. Ich verwandle es mir an und verwandle es dadurch. Die so verstandene Aneignung ist ein Bildungsprozess im elementarsten Sinne. Es darf offen bleiben, wie individuell das Ergebnis am Ende sein wird. Einen definierbaren Schlusspunkt dieser Entwicklung gibt es nicht. Natürlich beruhigt sich im Erwachsenenalter dieses Thema. Aber das heißt ja nicht, dass es erledigt ist.

Soziales entsteht durch Interesse am Anderen

Nur indem wir zum Jugendlichen hin einen kommunikativen Raum eröffnen, werden wir ihn bei seiner Suche unterstützen können. Es kommt dabei nicht auf unsere ungefragte Zustimmung oder Kritik an. Es kommt darauf an, dass wir als Erwachsene das Gespräch eröffnen und aufrechterhalten. Wir leben damit etwas von dem, was wohl Ziel dieser biographischen Entwicklungsphase ist: Das Soziale wird in Zukunft nur durch das Interesse an der Andersheit des Anderen entstehen. Es wird immer weniger aus dem Zusammenklang der Interessen, Meinungen und Empfindungen entstehen. Interesse an der Andersheit des Anderen ist mehr und ist etwas Anderes als Toleranz. Ich muss nicht tolerant sein mit einem Jugendlichen, dessen kreischende Musik mich nervt. Aber ich muss ein Interesse dafür entwickeln, was diese Art Musik für ihn bedeutet. Auch ein solches Gespräch lebt vom Fragen und Zuhören und nicht davon, dass man als Erwachsener gleich seine Meinung zum Besten gibt oder dem Jugendlichen etwas beibiegen möchte.

In dem skizzierten Aneignungsprozess verändert sich auch die Gemeinschaft. Je offener sie dafür ist, umso mehr kann Individualität sich herauskristallisieren. Und je mehr Individualität sich herauskristallisieren kann, umso mehr wird die Gemeinschaft sich wandeln können. Sprechen wir also Jugendlichen die Verantwortungsbereitschaft für das Soziale nicht ab, nur weil sie keine Lust haben, den Müll runterzutragen. Jugendliche suchen Grenzerfahrungen, Grenzwertiges, suchen die Herausforderung, suchen das Andere, Ungewöhnliche, um in der Auseinandersetzung damit das Eigene bilden zu können. Wir sollten ihnen mehr beim Suchen helfen als beim Finden.

Link: www.beratungsstelle-hesseweg.de