Warum tut man sich das alles an? Alternative Gemeinschaftsformen: vom Ökodorf zur Wagenburg

Valentin Hacken

Rechts ein hübscher und etwas unordentlicher Gemüsegarten, links an einem Holzzaun ein großes Banner, das für einen eigenständigen Wasserkreislauf wirbt. Das ist als erstes zu sehen, wenn man sich aus Bad Belzig kommend dem »ZEGG – Zentrum für erneuerbare Gesellschaftsgestaltung« nähert. Und Cordula Andrä ist zu sehen. Sie steht lässig auf der Straße, nimmt uns in Empfang und begleitet uns über das Gelände und durch Gespräche. Wir sind den ersten Tag Gäste in einer Gemeinschaft, die laut ihrer Internetseite sozial und ökologisch nachhaltiges Leben entwickelt und verwirklicht. Sie versucht das mit eigener Landwirtschaft, mit einem Selbstverwaltungsmodell, das sich Holocracy nennt, mit einem eigenen Gelände und etlichen Seminaren.

»Für mich ist das vermutlich eher eine Durchgangsstation«, erzählt Cordula, die uns nach den ersten Minuten das Du angeboten hat, während wir uns dem Versammlungsplatz des ZEGG nähern. Sie scheint zu wissen, was sie will. Sie beschreibt die Gemeinschaft als Katalysator für die eigene Entwicklung, ein Bild, das wir in dieser Woche noch öfter hören werden. Zuvor hatte sie in Berlin einen aufwendigen Job, nun ist sie für die Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinschaft zuständig.

Etwa 130 Menschen leben und arbeiten hier gemeinsam, Grund und Boden gehören der selbstverwalteten GmbH, die in ihrer Organisation eher einer Genossenschaft ähnelt. Das Gelände ist eine »essbare« Landschaft, verfügt über Solaranlagen und ein kleines Heizkraftwerk; es gibt eine Akademie, einen Verwaltungsbau und einen Dorfplatz mit Kneipe – es findet sich fast alles, was man in einem klassischen Dorf erwarten würde. Und dennoch ist nicht nur optisch gleich klar, dass man Bad Belzig weit hinter sich gelassen hat: Zu verwildert die Pflanzen, zu vertraut miteinander die Menschen, um nahtlos in das Städtchen mit dem Charme eines Ostseekurortes überzugehen. Dazu kommen die Farben der Schilder und Dekorationen, die mit der Geschichte des Ortes ringen: im »Dritten Reich« war es Gelände der SS zur Ausbildung der Spitzen von Hitlerjugend und BDM, in der DDR Schulungsstätte der Stasi für ihre Auslandsagenten.

Und dann gibt es die Einrichtungen, mit denen kaum ein Dorf aufwarten kann: Die große Gemeinschaftsküche, in der nach Dienstplan alle Bewohner für alle kochen – wer sein benutztes Geschirr zurückbringt, trocknet an der Spülstraße mindestens zwei Dinge ab –, die drei Räume, die jedem zur Verfügung stehen, der sich zum Sex außerhalb der eigenen vier Wände treffen will, und der kreisrunde Versammlungsplatz mit den 12 Thesen für eine gewaltfreie Erde. An Besuchern mangelt es hier nicht – 13.400 Übernachtungen zählte das ZEGG im Jahr 2011 und dennoch fallen wir auf, denn zum Zeitpunkt unseres Besuchs findet die Intensivzeit statt: Die Gemeinschaft ist weitgehend für sich, hält Arbeitsgruppen und Foren ab.

»Gerade geht es um eine neue Rechtsform«, erzählt Cordula. Doch das Forum ist vor allem Raum zur Entwicklung der Gemeinschaft, jeder kann jedes Anliegen einbringen, eigene Befindlichkeiten, Sorgen, Visionen – Privatestes wird so zu einer Angelegenheit der Gruppe. Auch Konflikte mit anderen Mitgliedern der Gemeinschaft können angesprochen werden, mit einer Moderation versucht man sich an einer Lösung. Die Regeln des Miteinanders, wie man es klassisch kennt, sind hier außer Kraft gesetzt. Der Umgang ist sehr bewusst, »man hat den Druck, sich auch entwickeln zu müssen«, sagt Michael Anderau, der mit seiner Familie in der Gemeinschaft lebt. Hier wird nicht nur gemeinsam gelebt oder geliebt oder gedacht oder gearbeitet, hier findet alles gleichzeitig statt, in einer Gemeinschaft, einem Bezugsrahmen.

Fliegende Bauten, gelandet in Leipzig

Wir überfallen Michael Quadflieg abends in Leipzig, stehen plötzlich mit dem Auto vor der Wagenburg und haben selbst nicht damit gerechnet, es noch vor Sonnenuntergang zu schaffen. Hinter einem bunten Tor sehen wir Bauwagen, an denen teils noch geschraubt wird, in einem Wiesengrundstück, das sich plötzlich am Ende einer Straße voller beschaulicher Wohnhäuser öffnet. Die GLS-Bank hat Quadflieg und die anderen Anteilseigner bei ihrem Grundstückskauf unterstützt; und so betreten wir eine legale Wagenburg, fließend Wasser, Strom und Telefon inklusive. Acht Wagen stehen gerade hier. Zu jedem Bewohner erfahren wir die Lebensgeschichte und die technischen Details der Konstruktion des Wagens, alle haben TÜV und keiner der Bewohner ist arbeitslos, wie man uns zwischen Geschichten vom Leben in fahrenden Bauten versichert. Sesshaft zu werden, fällt den Einzelgängern nicht leicht, gemeinsam für einen Ort Verantwortung zu tragen, ist eine Übung für Menschen, die sonst ihren Bauwagen aufstellen, wo sie eben gerade sein wollen und nicht von der Polizei vertrieben werden. Die meisten sind nur auf Zeit da, mal ein paar Monate, mal zwei, drei Jahre, dann geht es weiter. Bald kommt jemand mit einem Beamer, dann werden sie vielleicht zusammen Filme schauen. Sonst macht jeder eher sein Ding, macht Kunst oder bastelt an Bauwagen, Bio­graphie und Job – ob als Festivalmechaniker oder Tanztherapeutin – und hat hier eine verlässliche Anlaufstation.

Ökologisches Dorf im Nirgendwo

Ganz anders das Ökodorf Sieben Linden auf dem flachen Land mitten im Nirgendwo. Die nächsten größeren Städte Salzwedel und Uelzen. Eine Brigade Hinweisschilder empfängt uns, unter anderem ist das Handy dringend auszuschalten. Die malerische Bebauung aus Strohballenhäusern, Bauwagen und Holzbauten, die verschlungenen Wege und das viele Grün laden ein, sich dennoch auf das Gelände zu wagen. Während wir unsere Taschen aus dem Auto tragen, wird ein Reisebus mit frenetischem Klatschen und Singen in den Regen verabschiedet: Ein internationaler Kongress geht zu Ende.

Das Ökodorf hat strenge Regeln: Nur natürliche Kosmetika sind zu verwenden, wegen des Pflanzenklärwerks. Rauchen nur in den dafür vorgesehenen Bereichen. Der Wohnraum pro Person ist mit Blick auf den ökologischen Fußabdruck berechnet und begrenzt – ein Modell, mit dem der eigene Ressourcenverbrauch in Relation zu den vorhandenen Vorkommen auf der Erde gesetzt wird. Und gekocht wird vegan. Es ist eine kleine Gemeinschaft. Kaum mehr als hundert Menschen bewohnen das hübsche Gelände, das sich Modell­projekt der UN-Dekade für Nachhaltigkeit nennen darf. Es gibt kleinere Betriebe und Selbständige in Sieben Linden, einige haben Stellen außerhalb der Gemeinschaft und ein Gutteil ist mit dem Tagungsbetrieb, der Selbstversorgung und der Pflege und Entwicklung des Geländes befasst, unterstützt durch Freiwillige im Ökologischen Jahr.

Anthroposophie im Schwabenland

Kurz könnte man vermuten, hinter Deckenpfronn bei Stuttgart beginnt das Meer, bevor man über die Kuppe der kleinen Landstraße fährt, doch dann breitet sich die Dorfgemeinschaft Tennental aus, bunte Häuser, Werkstätten und landwirtschaftlicher Betrieb fächern sich auf. Wir landen mitten in einem Gewusel vor dem Haupthaus, es ist noch morgenkühl und allmählich stellt sich eine Runde auf, in der Berichte aus verschiedenen Werkstätten und Häusern abgegeben werden. In der anthroposophischen Einrichtung leben und arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam, eingeteilt in verschiedene Häuser, die jeweils durch eine Familie geleitet werden. Tagsüber wird in den Werkstätten von Einmachküche bis Astholzwerkstatt ge­arbeitet. Die Produkte, die dort entstehen sind nichts, was man aus Mitleid kaufen würde. Die Lebensmittel sind biozertifiziert und werden über den Großhandel vertrieben, für die Spielzeuge der Holzwerkstatt gibt es einen eigenen Katalog. »Die Werkstätten müssen sich wirtschaftlich selbst tragen«, sagt Holger Wilms und das sieht man auch: professionelle Ausrüstung, sauber, sortiert. Es gibt hier Menschen, die weitgehend selbstständig arbeiten und andere mit verstärkter Betreuung. Die Werkstattleiter kennen ihre Mitarbeiter gut und wissen um deren besondere Bedürfnisse, die uns Gäste gelegentlich kurz verwirren – zum Beispiel lautes, rhythmisches Rufen vor der Werkstatt. Es wird uns ruhig erklärt: »Das muss er jetzt tun, den Tag begrüßen«. Nach einem ausgedehnten Rundgang und vielen Gesprächen sitzen wir im Haus Lievegoed mit am Tisch, gutes Essen und eine fröhliche und patente Hausmutter sprechen für sich und diesen Ort.

Warum diese schwierigen Lebensformen?

Doch nach einer Woche sind wir erschlagen, haben die meisten Bundesländer durchfahren und zunehmend das Gefühl, in zwei parallelen Wirklichkeiten zu reisen.

Meist liegt zwischen den Autokilometern von einer Gemeinschaft bis zum nächsten größeren Ort eine gefühlte halbe Welt. Was wir sehen, sind eigene, feste Regeln für das Miteinander. Die Gemeinschaften stellen ihren eigenen Bezugsrahmen her. Fokussiert auf das Leben mit den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft wird hier der Blick viel genauer, intensiver. Jeder kann und muss sich entwickeln, die Gemeinschaft teilt dauerhaft alle Lebensbereiche und Aufgaben, verdient gemeinsam Geld und kocht gemeinsam, bespricht private Anliegen und die gemeinsamen Ziele. Es gibt oft eine klar spürbare Trennung zwischen drinnen und draußen, wobei von Bad Belzig bis zum Tennental Wert auf gute Beziehungen zur Umgebung gelegt wird. So bietet etwa die Dorfgemeinschaft bei Deckenpfronn namhaften Firmen der Region Praktika für die Lehrlinge an, um deren soziale Kompetenzen zu erweitern.

Ganz gleich ob der Schwerpunkt im Bereich Ökologie oder freier Liebe liegt: Es entwickeln sich für die besonderen Ziele ganz eigene Formen, die den Besucher oft seltsam anmuten, neu sind und wenig vertraut. Diese eigenen Formen zu leben, für die es keine tradierten Muster gibt, stellt sich nicht nur Besuchern als große Herausforderung dar, wir hören an jeder Station unserer Reise auch lange Klagelieder, meist Beschwerden über die Schwierigkeit, sich als Gemeinschaft zu organisieren und Aufgaben zu teilen, die Abgrenzung zwischen ich und wir zu finden und zu wahren.

Irgendwann fragen wir ganz offen »Warum tut man sich das eigentlich an?«. Warum nach einer Trennung weiter mit dem ehemaligen Partner alle Bereiche des Lebens in der Gemeinschaft teilen? Warum sich vorschreiben lassen, wie viel Quadratmeter beim Hausbau zulässig sind? Warum alles diskutieren? Und warum Arbeitszeiten hinnehmen, die keine Gewerkschaft akzeptieren würde? »Weil ich hier richtig wahrgenommen werde«, lautet die häufigste Antwort. Weil sich – meist nach einem Aufnahmeverfahren mit Mehrheitsentscheidung der Gemeinschaft – ein Umfeld auftut, dass einen vollständig annimmt, die Beziehung immer als entwicklungsfähig versteht und jedem Mitglied auf dem Weg zu gemeinsamen Zielen gerecht werden will. So sind diese Gemeinschaften wie Biotope für verschrobene Aussteiger und Menschen, die sich den Regeln der Gesellschaft nicht mehr unterwerfen wollen oder können; die hier ein eigenes, für sie passendes Format gefunden haben. Und es sind Durchgangsstationen für Menschen, die in ihrer eigenen Entwicklung suchend sind. Das ZEGG hat dafür den Begriff Ort der Heilung gefunden. Mit den Zwischentönen tun sich viele Gemeinschaften schwer, der Blick geht entweder in die kleinsten Einheiten des Miteinanders oder auf globale Entwicklungen. Erst der praktische Alltag erzwingt hier eine gewisse Balance.

Am Ende eines Gesprächs im ZEGG steht die Feststellung: »Man muss nicht in Gemeinschaft leben, wenn man auch anders glücklich werden kann. Aber man kann hier vieles lernen. Das hier kann Beispiel und Vorbild sein« – wie auch die ökologischen Unternehmungen in Sieben Linden oder die Arbeit im Tennental. Das in Sieben Linden herausgegebene Eurotopia-Verzeichnis stellt Gemeinschaften in ganz Europa vor, mit ihren unterschiedlichen Zielen und ihren Methoden, ein neues, menschliches Miteinander zu üben. Wer sich ihnen anschließen will, muss teils Bedingungen akzeptieren wie für einen Laborversuch, kann dafür aber entweder endlich den überschaubaren, gestaltbaren Lebensort finden oder etwas über sich erfahren. In jedem Fall zieht man sich damit aus der Gesellschaft zurück, im besten Falle, um sie auf anderen Wegen wieder zu bereichern. Es sind kleine Versuchsmodelle für die große Frage, wie Menschen miteinander leben wollen – und können.

Zum Autor: Valentin Hacken studiert Rechtswissenschaften in Halle und arbeitet als freier Autor. Er war langjähriger Vorstand und Geschäftsführer der WaldorfSV – Bundesschülerrat.