Der Engel im Alltag des Lehrers

Sven Saar

Bevor ich Bücher und Hefte aufschlage, schließe ich meine Augen und versuche zu spüren, dass hinter mir mein Engel steht, mir sanft seine Hände auf die Schultern legt und mir für meine Arbeit Kraft spendet. Wenn ich mich auf diese Weise unterstützt fühle, gehe ich in Gedanken meine Kinder durch und frage sie:

Was hast Du heute erreicht?

Was ist Dir gelungen?

Woran musst Du weiter arbeiten?

Auf welche Weise kann ich Dich dabei unterstützen, damit Dein Lernerfolg Deine eigene Errungenschaft ist?

Hast Du mir eine deutliche oder unausgesprochene Frage gestellt?

Bin ich Deinen Ansprüchen an mich gerecht geworden?

Zum Abschluss dieser Meditation sehe ich uns alle im Kreis stehen, hinter jedem von uns ein Engel: Nicht nur wir, auch unsere himmlischen Freunde stehen miteinander in Kontakt und haben ein Interesse daran, dass wir aneinander lernen. Wenn meine Seele auf diese Art eingestimmt ist, beginne ich die inhaltliche Vorbereitungsarbeit.

Hat Sie diese Einleitung überrascht, vielleicht sogar unangenehm berührt? Nach regelmäßigen Umfragen glauben viele Menschen daran, dass Engelwesen unser irdisches Leben begleiten. Es sind überraschende Zahlen: zwischen 49 Prozent in Deutschland und 77 Prozent in den USA, weitaus höher als die Zahl der Kirchgänger oder auch nur bekennend religiösen Menschen.

Und doch ist das wohl selten Gesprächsthema im Café oder am Mittagstisch. Wie geht es Ihnen bei dem Gedanken, dass ein leitender Politiker sich zum Engelsglauben bekennt? Was würde wohl die Presse daraus machen? Irgendwie scheint unser Verhältnis zu diesem Aspekt der geistigen Welt gestört zu sein. Oder liegt unsere Zurückhaltung, das Thema im öffentlichen Bereich zu besprechen, daran, dass es uns ganz persönlich, tief innerlich berührt und sich nicht zum Teilen eignet?

Der Beistand der himmlischen Wesen

Auch in der wöchentlichen Konferenz der Waldorfschule ist es auf meist unausgesprochene Weise selbstverständlich, sich das Wirken der geistigen Wesenheiten bewusst zu machen. Das Kollegium erinnert sich gemeinsam mit Hilfe von Sprüchen und Imaginationen daran, dass die Aufgaben, denen wir uns stellen, sozusagen himmlischen Ursprungs sind und über das Alltagsgeschäft des Lesen- und Schreibenlernens weit hinaus führen. Warum entschließt sich jemand, als Waldorflehrer aktiv mit diesen Wesenheiten zusammenzuarbeiten? Auf welche Weise ist das Bewusstsein, sich von Engeln unterstützt zu fühlen, eine Hilfe und Inspiration? Und was sind Engel überhaupt?

Uns allen ist das Bild des Schutzengels bekannt, der uns vor Unfällen bewahrt. War es ein Zufall, dass am Silvestertag 2014 in der Münchner Marienstraße ein massives Schneebrett vom Dach rutschte, zwanzig Meter durch die Luft fiel und direkt hinter mir mit einem ohrenbetäubenden Knall auf die Erde krachte? In den entsetzten Blicken der Passanten war zu lesen, welchem Schicksal ich knapp entgangen war. Völlig unbekümmert war ich an den Geschäften entlang geschlendert und gerade dann nicht stehen geblieben, als die Schneemassen lautlos auf meinen Kopf zusausten …

Alle Eltern kennen diese Situationen, in denen ein Kind hätte sterben können, aber durch scheinbaren Zufall davor bewahrt wurde. Wenn man in solchen Fällen daran glaubt, beschützt worden zu sein, muss man sich eigentlich fragen: zu welchem Zwecke denn?

Vom jungen Martin Luther wird erzählt, dass er einmal mit einem engen Freund über ein Feld spazierte, als ein Gewittersturm losbrach. Sein Freund wurde vom Blitz getroffen und war sofort tot. Das stürzte Luther in eine tiefe Krise, in der er sich fragte: Warum er und nicht ich? Als Ergebnis seiner Überlegungen entschloss sich Luther, nicht Advokat, sondern Geistlicher zu werden und so der Menschheit zu dienen. Er empfand das Verschontwerden also als Auftrag der göttlichen Welt.

Klischee oder Ausdruck eines geistigen Gesetzes?

In vielen Religionen haben Engel die Funktion von Botschaftern. Sie vermitteln den Menschen die »Absichten« der geistigen Welt. Von der Erde aus betrachtet, sind sie etwas über den Menschen Erhabenes, aber nicht ganz so Unfassbares wie die Gottheit selbst. Wenn Künstler oder Kinder Engel malen, haben diese wie selbstverständlich Flügel. Sie sollen wohl zum Ausdruck bringen, dass das Engelwesen etwas personifiziert, was den Menschen nach oben, also über sich hinaus weist.

Und warum werden Engel immer schön dargestellt? Ist das bloß ein sentimentales Klischee, oder spricht sich auch hier ein geistiges Gesetz aus? Kann es uns gelingen, an der kitschig-sentimental befrachteten Gestalt des Friedhofsengels vorbei das Urbild zu entdecken?

Als ich einmal mit Zweitklässlern über den Sternenhimmel sprach, entwickelte sich ganz ungeplant das folgende Bild: Der ganze Himmel ist durch das Strahlen der Engel von goldenem Licht erfüllt. Wenn es auf der Erde Tag ist, leben die Engel in der Sonne und leuchten uns auf unserem Weg. In der Nacht senkt sich eine schützende Hülle über die Welt – aber für jeden Menschen gibt es ein Fenster, hinter dem sein Engel steht und über ihn wacht. Diese Fenster sind die Sterne, und deshalb glänzen sie golden: Wir sehen durch sie das himmlische Licht! Für jeden Menschen auf der Erde gibt es ein Fenster, einen Stern am Firmament.

Ich erinnere mich noch deutlich an die stille Befriedigung, die am Ende dieser Stunde im Klassenzimmer herrschte: Alles ist gut in der Welt, alles passt zusammen und alles hat einen Sinn.

Engelskräfte und Liebesfähigkeit

Setzen wir einmal voraus, dass das Geistige im Menschen stets nach dem Göttlichen in der Welt strebt; das heißt, in uns lebt etwas, was sich nach Vollkommenheit sehnt. Alle menschliche Ambition kann so erklärt werden. Selbst ein Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel wird sich Mühe geben, seine Hütte gut und fest zu bauen, auch wenn er mit dem Resultat niemanden beeindrucken kann. Der innere Anspruch an uns selbst, uns fortwährend zu verbessern und weiterzuentwickeln, ist eng mit unserem Gewissen verbunden, und man könnte es als eine Aufgabe unseres Engels betrachten, uns diesen Anspruch nicht vergessen zu lassen. Diese Engelskraft in jedem Menschen, diesen Wächter unserer erhabenen Ziele und Intentionen sprechen Lehrer und Lehrerinnen an. An dieser Stelle landet der Appell, fleißig zu arbeiten, gründlich zu lernen, harmonisch im Klassenverband zu leben. Unserem »Alltags-Ich« sind solche Ermahnungen oft unbequem, ja geradezu störend. Und doch kennen wir alle jene Kraft, die uns unsere guten Vorsätze nicht vergessen lässt. Hier spüren wir des Engels Flügelschlag! Aber Pädagogen müssen sich auch bewusst sein, an wen sie da appellieren, und dass diese Kräfte milde und geduldig sind – sie zwingen nicht, aber sie geben auch nicht auf. Die Aufforderung an meine Schüler, an sich zu arbeiten, darf auch nicht aus meinem Alltagsbewusstsein kommen, sondern muss ihre Quelle in meiner eigenen Arbeit an mir selber haben. Wie kann ich von den Kindern eine Anstrengung verlangen, die ich selber nicht zu leisten bereit bin?

Waldorflehrer lieben ihre Schüler! Das ist auf der einen Seite eine Selbstverständlichkeit, vielleicht auch ein Klischee. Vor allem Erstklässler sind ja so niedlich und uns so vertrauensvoll und innig zugeneigt. Wie könnte sich das Klassenlehrerherz da verschließen! Aber nicht alle Waldorfschüler sind Erstklässler, nicht alle Kinder sind niedlich, nicht alle Waldorfpädagogen sind Klassenlehrer und doch gilt in allem Miteinander der von Steiner oft betonte und stets implizierte Anspruch: Ihr müsst eure Schüler lieben!

Geht man etwas in die Tiefe, wird schnell deutlich, dass es sich hier nicht um etwas Sentimentales oder gar Äußer­liches handeln kann. Die Liebe, welche Lehrer und Schüler verbindet, unterscheidet sich von derjenigen zwischen Eltern und ihren Kindern nicht zuletzt dadurch, dass sie sich stets verändern muss, dass aus der innigen, beiderseitigen Zuwendung der ersten Schuljahre ein anerkennender Respekt werden sollte, der die Kinder wohlwollend frei lässt. Als Lehrer oder Lehrerin ist es unsere Aufgabe, eine vergeistigte Liebesfähigkeit zu pflegen, deren Grundlagen nicht im Emotionalen zu finden sind. Sie muss unabhängig sein von Äußerlichkeiten und vom alltäglichen Befinden des Lehrers, vom Betragen des Schülers. Sie entsteht, wenn das, was in mir nach dem Höheren strebt, seine Geschwisterkraft in den Schülern erkennen kann. Sie gedeiht, wenn mein Engel mit dem Engel des mir anvertrauten Kindes spricht. Und weil dies ein so hoher Anspruch ist, empfinde ich es an jedem Abend zugleich als auffordernd und beruhigend, wenn ich seine sanften Hände auf meinen Schultern spüre.

Zum Autor: Sven Saar ist Klassenlehrer an der Freien Waldorfschule Wahlwies in Stockach.