Die Empfindungsseele

Ronald Templeton

Das siebenjährige Kind hat auf mich gewartet und zieht mich begeistert in sein Kinderzimmer. Es zeigt mir eine Ranch, die eine Kulisse für einen Film sein könnte. Pferde aller Arten, dem Leben getreu nachgebildet, ebenso wie die Safaritiere. Dazu Gebäude, Zäune, Savannengebüsch. Dann ein Flugzeug, bei dem man die obere Hälfte abnehmen kann, um die Passagiere zu sehen. Begeistert flattert das Kind vom einen zum anderen. »Da mein Bett, meine Tiere«, kaum sichtbar in der Spielzeugfülle. Aber das ist noch nicht alles. Auf dem Flur gibt es noch einen Schrank! Seine Äuglein blitzen, doch hinter der Aufregung erscheint ein trauriger Schimmer. Als ich dann mit den Eltern spreche, fängt es an zu nörgeln. »Mir ist so langweilig. Was soll ich spielen?« Alle Vorschläge hat es schon ›ausprobiert‹ – der Blick ist auf das Handy gerichtet. Um vor seinem Gedrängel Ruhe zu haben, wird es ihm ausgehändigt und dann hören wir längere Zeit nichts mehr von ihm.

Im Spiel lernt das Kind empfinden

Das Beispiel zeigt, wie schon früh die Empfindungsfähigkeit gefördert oder ihr Steine in den Weg gelegt werden. Denn dasjenige, was seelisch empfindend hin und her webt und dadurch mit seiner Umgebung in eine innere Beziehung tritt und kommunizieren lernt, bildet die Grundlage für die Entfaltung der Empfindungsseele.

Das Beispiel zeigt: Das Beziehung-Schaffende wird kaum entwickelt, wenn die Fülle fertig ausgeformter Gegenstände die Phantasie fesselt und verzettelt. Ein Kind möchte sich träumend mit einer Tätigkeit verbinden und seine Welt phantasievoll verarbeiten!

Der Ton macht die Musik

Beobachten wir, wie das Kind auf die Sprache der Erwachsenen reagiert, dann spüren wir sofort, dass es nicht nur die kommunizierte Information wahrnimmt, sondern zugleich mit seinem ganzen Wesen alles aufnimmt, was sich in der Empfindungsseele der Erwachsenen abspielt. An ihren Äußerungen lernt es, sich gefühlsmäßig zu orientieren.

Erwachen an der Umwelt

Die Empfindungsseele entfaltet sich in den Beziehungen und äußert sich durch Gefühle. Aber sie hat auch eine andere Seite. Mit den Worten Rudolf Steiners: »Wenn wir auf unsere Umwelt schauen, können wir darin die Kräfte sehen, die am Menschen die Fähigkeit herausgearbeitet haben, dieser Umwelt sich bewusst zu werden.« Das Bewusstmachende beruht auf einem Gefüge, das die Seele über die Sinnesempfindung in ein Verhältnis zur Umwelt bringt. Dieses nennt Steiner Empfindungsleib und erst in diesem Gefüge kann sich die Empfindungsseele wie ein feines, atmendes Weben entfalten.

Über die Empfindungsseele nehmen wir Farben und Töne wahr. Wir können sie sehen und bezeichnen sie als Rot oder Blau. Wie sie auf uns wirken, hängt mit der vermittelten »Farbstimmung« zusammen. So wird verständlich, warum die Kinder schon in den ersten Klassen der Waldorfschule malend die Wirkungen der Farben erkunden und entdecken, dass sie »handelnde Wesen« sind, das heißt im Verhältnis zueinander Wirkungen erzeugen. Die Werbeindustrie nutzt die Empfindungsseele, um sie für ihre Zwecke einzusetzen. Zum Beispiel ein in Blau gehaltenes Bild vermittelt den Eindruck, oder die Empfindung von Kälte. Wenn dann darüber eine in sanftem Orange gehaltene Schrift gezogen wird, dann assoziiert man das mit Wärme und man hat die idealen Farben für eine Heizungsreklame. Auch bei den Tönen entstehen solche Assoziationen: Der Zahnarzt lässt sanfte Musik spielen. Laute, stark rhythmische Musik würde zwar die Wachheit dämpfen, aber nervös machen. Die »Stimmungen«, die vermittelt werden, entstehen durch das oben erwähnte atmende Weben der Empfindungsseele: nach allen Seiten hin antworten im Innern die Empfindungen auf die Eindrücke. Das sind die Elemente, mit denen auch der Künstler schöpferisch-kreativ umgeht, Erwachsene die Welt sozial empfindend verstehen können und der Werbefachmann Gefühle manipuliert.

Der hinaustastenden und wahrnehmenden Seite der Empfindungsseele steht eine selbstbezogene gegenüber: Wenn das Kind oder der Jugendliche seine Eigenständigkeit zu behaupten beginnt, schlägt das Willensartige durch. In den Willensimpulsen, in den erwachten Trieben, Begierden und Leidenschaften zeigt sich ebenfalls, wie man sich zur Außenwelt in Beziehung setzt. In diesem Fall verbindet sich aber die Empfindungsseele auf eine eher dumpfe und selbstbezogene Weise mit ihrem Umkreis. Wenn sie vom Ich bewusst kultiviert wird, emanzipiert sie sich immer mehr von Affekten wie Zorn, Furcht und Angst und entwickelt sich hin zum freieren Atmen in der empfindenden Wahrnehmung.

Wenn das Ich die Empfindungen ergreift

Mit dem vollen Erwachen zum eigenen Ich übernimmt man die Verantwortung für sich selbst und entscheidet sich dafür, etwas aus seinem Leben zu machen. Zunächst tritt der junge Erwachsene in eine »Sturm und Drang«-Erprobungsphase ein. Erfolg und brodelnde Leidenschaften äußern sich in ausgelassener Freude. Werden Misserfolge oder Enttäuschungen erlebt, kippen sie leicht in dunkle Niedergeschlagenheit um. Erst mit der Zeit wird man gesetzter, nüchterner und gelassener, das innere Gewoge beruhigt sich. Das freie und atmende Weben der Empfindungsseele wird zum Schlüssel, wertschätzend echte Beziehungen aufzubauen, die der Bewusstseinsseele als Grundlage dienen können, sich kreativ gestaltend aus den Gegebenheiten einzubringen.

Zum Autor: Ronald Templeton ist Waldorflehrer, als Organisationsentwickler und Konfliktberater tätig.

Literatur: Rudolf Steiner: Theosophie (GA 9), Kap. »Das Wesen des Menschen«; ders.: Metamorphosen des Seelenlebens, Vortrag vom 25. Nov. 1909 (GA 58); ders.: Die Mission der neuen Geistesoffenbarung, Vortrag vom 8. Jan. 1911 (GA 127).