Die Macht des Singens

Mathias Maurer

Liebe Leserin, lieber Leser! 

Mia singt ohne Unterlass. Beim Spielen, Spaziergehen, in der Badewanne, aber auch mit vollem Mund beim Essen. Die Fünfjährige singt alle Strophen im Wortlaut richtig, aber auch Phantasiertes in der Melodie oder summt nur so vor sich hin. Fragt man direkt nach, ob sie etwas vorsingen möchte, verstummt sie. Auch wenn sie die Texte nicht alle inhaltlich versteht – Singen gehört zu ihrem Lebensausdruck.

Paul, ihr Bruder, möchte nicht einmal den Mund aufmachen. Er ist ja auch schon vierzehn. Singen? Voll peinlich! Auch er sang einmal schön und gerne. Wo ist das geblieben? Paul weiß insgeheim, dass er beim Singen etwas preisgeben müsste, was wie selbstverständlich seine kleine Schwester noch besitzt: Sich selbst – und Pauls Selbst ist gerade im Umbau begriffen. Außerdem hat er Anderes und Wichtigeres im Sinn.

Eva ist achtzehn, die ältere Schwester von Paul und Mia. Sie singt begeistert im Oberstufenchor und macht bei den Chorkonzerten der Schule mit. Auch bei ihr gab es eine Zeit, in der Singen nicht ihr Ding war. Jetzt macht es ihr wieder richtig Spaß. Sie hat sich frei gesungen, sagt sie.

Singen ist aber nicht nur eine Angelegenheit, die persönlichen oder altersbedingten Launen unterliegt. Der Gesang hat nicht nur die Kraft zur individuellen, sondern auch zur politischen Revolution. Als »Singende Revolution« ging die nationale Befreiungsbewegung der baltischen Staaten Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre in die Geschichtsbücher ein. Ihre staatliche Unabhängigkeit ersangen sich Hunderttausende von Menschen in friedlichen Demonstrationen. Höhepunkt bildete eine sechshundert Kilometer lange, singende Menschenkette von zwei Millionen Menschen von Tallinn über Riga bis nach Vilnius.

»Wo man singt, da lass´ Dich ruhig nieder«, heißt es nach Johann Friedrich Seume (1763–1810). Während man dem ersten Teil der Strophe noch zustimmen mag, fällt dies dem zweiten Teil »böse Menschen haben keine Lieder« gegenüber schwerer, denn auch Diktatoren und Militärs kennen die Macht des Gesangs, die selbst Kinderseelen nicht mehr loslässt. Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller beschreibt in ihrem autobiographischen Essay »Die rote Blume und der Stock«, wie sie in einem Kindergarten mit »Schneeflöckchen, Weißröckchen« vergeblich versuchte, Fünfjährigen ihre Lust, die Hymne auf Ceausescu zu schmettern, auszutreiben.

Der Arzt und Theologe Angelus Silesius (1624–1677) schrieb in seinem Cherubinischen Wandersmann: »Wer sich nur einen Blick kann über sich erschwingen, Der kann das Gloria mit Gottes Engeln singen.« Singend kann der Mensch über sich hinauswachsen, sich einem Höheren öffnen. Bei Kindern wie Mia ist das noch eine zauberhafte Selbstverständlichkeit.

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer