Ich bin gemein

Liebe Leserin, lieber Leser! 

Ein Kind wäre ohne Gemeinschaft verloren. Ein Erwachsener weniger – oder täuschen wir uns? Während Ersteres augenscheinlich ist, scheint jedes erwachsene Individuum sein maximales Selbstverwirklichungsprogramm und seine Interessen im Leben umsetzen zu wollen. Dafür benutzt er die kleine und große Gemeinschaft. Oder bräuchte er sie für mehr?

Man weiß aus der Kindheitsforschung: Jedes Kind kann nur in und an der Gemeinschaft zum Individuum reifen. Ein Erwachsener nicht? Ist seine Entwicklung fertig?  Mitnichten. Erst am Du erkennt sich das Ich und spiegelt sich in der Gemeinschaft.

Was ist dann das Ich? Ein Reflex der Gemeinschaft? Ein Konglomerat individuell zusammengestückelter Überzeugungen und Ansichten anderer? Und die Gemeinschaften übernehmen die Aufgabe des Inter­essensausgleiches, wie zum Beispiel bei Rechtsstreitigkeiten oder Wirtschaftsverträgen?

Wenn es einerseits auch nicht denkbar ist, dass ein Ich ohne Gemeinschaft existiert, kommt andererseits eine Gemeinschaft nicht ohne »Iche« aus – und sei es in Form von Häuptlingen, Chefs oder anderen Führungspersönlichkeiten. Doch diese Form der Gemeinschaftsbildung kommt an ein historisches Ende. Mit der zunehmenden Individualisierung der Menschen muss Gemeinschaft von jedem einzelnen Menschen aktiv gewollt und hergestellt werden – permanent. Gemeinschaft ist nicht mehr einfach, nur weil sie einer will; es müssen sie mehr wollen – mindestens zwei.

Neue gesellschaftliche Bewegungen wie Gemeinwohlwirtschaft, ethisches Banking, nachhaltige Landwirtschaft brauchen das selbstbestimmte Ich, das freiwillig den sozialen Horizont im Blick hat und sich dann aus freien Stücken mit anderen zusammentut. Haben früher die sozialen Abmachungen und Sanktionen den Egoismus des Einzelnen in zivilisierten Bahnen gehalten, gehört das Soziale heute zum Ich-Bedürfnis.

Man muss kein Gutmensch sein, um zu erkennen, dass in Anbetracht der globalen Vernetztheit der Menschheit die soziale Antwort auf unsoziales Verhalten früher oder später unweigerlich bei einem selbst wieder ankommen wird – und umgekehrt.

Doch Zukunftsimpulse und Initiativen können nur einem Ich entspringen – nicht aus dem Status quo einer Gemeinschaft. Von einer modernen tragfähigen Gemeinschaftsbildung ist deshalb die Ich-Entwicklung des einzelnen Menschen nicht zu trennen – im großen wie im kleinen.

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer