Ich bin's

Mathias Maurer

»Ja, ich doch!«. Die Anruferin scheint sich ihrer Sache sicher zu sein. – »Wer sind Sie?«, frage ich nun schon etwas säuerlich. Sollte mich jemand kennen, den ich nicht kenne und prompt kommt auch die Frage. – »Na, kennst Du mich nicht mehr?« – Im Zeitraffer gehe ich alle möglichen Ecken meines Gedächtnisses durch. Es scheint mich im Stich zu lassen! Ich erkenne die Anruferin nicht, fühle mich wie ertappt. Das Gegenüber bringt mir eine Vertrautheit entgegen, die ich ihm nicht erwidern kann.

Doch jetzt kommt der Name, gleich werde ich es wissen: »Ich bin’s, Karin«, behauptet sie. – Karin ...?, denke ich und eine kleine Pause tritt ein, ich kenne keine Karin. Jetzt wird es doch etwas unangenehm. Ich habe keinen blassen Schimmer. – »Es muss sich wohl um eine Verwechslung handeln ...«, versuche ich es einmal,
ahnend, dass ich mir da nicht so sicher sein darf. Pause auf der anderen Seite. Dann: »Erinnerst Du Dich nicht mehr an die Klassenfahrt nach Tirol, zehnte Klasse ...?« – Schlagartig, siedend heiß fällt mir ein: Karin, das war doch das komische Mädchen, das wir immer getriezt hatten. Die hatten wir so mit Schnee eingeseift, dass sie klatschnass ... und dann auch noch Lungenentzündung ... Ich hatte das völlig verdrängt, auch wenn mich damals schon gelegentlich das Gewissen biss. Und es biss nach so langer Zeit sofort wieder zu.

Begegnungen entlocken Erinnerungen, von außen angeregt, und führen uns – nicht immer schmeichelnd – zur Selbsterkenntnis. Mein Ich ist mit dem anderen Ich verbunden. Durch das andere Ich kommt mir ein Teil von mir selbst entgegen und spiegelt mir mein eigenes – nicht mein alltägliches, sondern mein höheres, überzeitliches Ich, das mit meinem innersten moralischen Kern verbunden ist. Über kurz oder lang bleibt da keine Rechnung offen. Das Gewissen regt sich, seine Stimme ist ein Anruf an mein Ich.

Rudolf Steiner spricht von einem regelrechten »Ich-Sinn« des Menschen. Er bezeichnet damit die Fähigkeit, das Ich eines anderen Menschen wahrzunehmen. Und das Organ dafür sei über das ganze Menschsein ausgebreitet, wie ein schlafender Wille. Wird mein Ich von einem anderen Menschen wahrgenommen, kann ich mich darin selbst erkennen.

Für Karin ist das jedenfalls keine Frage. Sie verhält sich mir gegenüber überhaupt nicht nachtragend und völlig locker: »Du hast aber eine lange Leitung. Endlich habe ich Dich mal erwischt ...« Sie ist mit ihrer »tollen« Klasse bis heute eng verbunden und will nur meine E-Mail-Adresse für die Einladung zum Klassentreffen haben.
Der Anruf lag genau richtig. Er traf mich.