Liebe ist

Mathias Maurer

Doch es geht gar nicht ohne Vorstellungen: Kein Austausch, kein Gespräch, keine Diskussion über mich und die Welt wäre möglich. Der Übergang

geschieht oft unbemerkt: Aus Vorstellungen werden fixe Vorstellungen, feste Bilder, Einbildungen, Vor­urteile, die rasch die Bodenhaftung verlieren. Das ist alltäglich, geschieht quasi automatisch.

Nicht automatisch ist es, diese Vorstellungen aufzugeben, liebgewordene besonders, weil wir meinen, so erklärt sich mir der andere Mensch oder die Welt am besten – und ganz besonders deren problematische Seiten. Das kann soweit gehen, dass die Fakten schon längst gegen diese Vorstellungen oder Vorurteile sprechen, trotzdem werden sie weiter gepflegt: Über ein schwieriges Kind, doofe Nachbarn, Ausländer im Allgemeinen, über Putin oder den Islamischen Staat ... nicht zuletzt über mich selbst und meine Schwächen. Und das hat Folgen im realen Leben. Studien zeigen: Schon der Vorname eines Schülers beeinflusst die Notengebung der Lehrer. Zahlreiche sozialpsychologische Untersuchungen (u.a. Rosenthal & Jakobson, Heckhausen) erhärten den Zusammenhang von Vorstellungen und Handlungen bis hin zum Self-

fulfilling-prophecy-Effekt: Es tritt tatsächlich ein, was man sich nur vorgestellt hat. Ein Teufelskreis der Stigmatisierung wird in Gang gesetzt.

Doch Menschen sind in Entwicklung begriffen. Sie verändern sich. Und diese Veränderungsmöglichkeit jedem zuzugestehen, macht uns überhaupt erst zu Menschen, macht uns zu einer Gemeinschaft, die der Humanität verpflichtet ist. Jeder kann vom Saulus zum Paulus werden, auch wenn es ausweglos scheint und alle Erfahrung dagegen spricht. In jedem Menschen steckt das Potenzial ein anderer zu werden.

Das ist der Kernansatz der Waldorfpädagogik. Kein Kind wird festgelegt, in einem Status quo des Verhaltens oder der Leistung festgehalten – es werden Entwicklungsfenster gesucht, die jeden in seinen individuellen Fähigkeiten »voll kommen« lassen.

Vorstellungen aufzugeben ist anstrengend, denn man verlässt orientierunggebende, innere Geländer, lässt sich auf Neues, vielleicht noch gar nicht in Erscheinung Getretenes ein. An Vorstellungen festzuhalten, entspricht nicht dem entwicklungbegabten Menschen, macht böse. Hass ist das Ergebnis nicht gelebter Menschenliebe.

Im Hohelied der Liebe (1. Kor. 13) heißt es: »Und wenn ich prophetisch reden könnte / und alle Geheimnisse wüsste / und alle Erkenntnis hätte; / wenn ich alle Glaubenskraft besäße / und Berge damit versetzen könnte, / hätte aber die Liebe nicht, / wäre ich nichts. Die Liebe ist langmütig, / die Liebe ist gütig. / Sie ereifert sich nicht, / sie prahlt nicht, / sie bläht sich nicht auf. Sie ...  trägt das Böse nicht nach. Die Liebe hört niemals auf.«

Liebe ist überzeitlich.