Nachholbedarf

Mathias Maurer

Der Kindergarten ist nicht mehr ein Ort, an dem die Kinder vormittags einen überschau- und verkraftbaren Tagesabschnitt mit konstantem Erzieherpersonal erleben, und die Schule ist nicht mehr nur ein Ort, an dem in einem Klassenzimmer eine konstante Klasse unterrichtet wird. Die Professionalisierung der Betreuung steigt, die freie Freizeit der Kinder und Schüler schwindet.

Auf die wachsende Nachfrage der Eltern reagierten die Einrichtungen mit Einzelmaßnahmen, in dem sie ihr Angebot schrittweise ausbauten. Dieser Flickenteppich wuchs sich inzwischen zum schwergewichtigen und kostenträchtigen Anhang aus. Nur in wenigen Fällen besteht ein in sich geschlossenes pädagogisches Konzept, dass den Nachmittag als gleichwertigen Angebotsteil der Einrichtung einschließt. Deutlich spiegelt sich dies am fachlichen Einsatz: Im Kindergarten übernehmen oft »billigere« Praktikanten die Betreuung und an den Schulen sind es die Erzieher. Gleichzeitig übernimmt man aus Gründen der finanziellen Bezuschussung gleich die staatlichen Betreuungsbedingungen mit, zum Beispiel bei der personellen oder räumlichen Ausstattung. Es sind sinnvolle, einheitliche Ganztageskonzepte gefragt und eine verstärkte pädagogische Zusammenarbeit des Personals auf Augenhöhe.

Waldorf den ganzen Tag: Der durchpädagogisierte Lebensraum, der Kindern und Schülern geboten werden soll, verlangt eine intensivierte Erziehungspartnerschaft von Lehrern, Erziehern und Eltern, ohne dass Eltern, die – aus welchen Gründen auch immer – ihre Kinder von 7:00 Uhr morgens bis 18:00 Uhr abends versorgen lassen oder aber schon um 12:00 Uhr zum Mittagessen zuhause wissen wollen, dis­kriminiert werden. Das kann schnell geschehen: »Was, du arbeitetest (immer noch) nicht?« Oder: »Wir wollen und können uns es leisten, die Kinder zu Hause zu haben.« Letzteren kann es passieren, dass sie diese Option bei einer Ganztagesschule oder -kindergarten gar nicht mehr haben, weil die Norm und die primäre Beziehungsgruppe – für das Kind allemal – nicht mehr die Familie, sondern die (Fremd-)Betreuung in einer Einrichtung ist. Es wäre bedauerlich, wenn die Familie dadurch indirekt diskriminiert würde. Es ist erstaunlich, wenn man die Familie als wünschenswertes Zentrum der kindlichen Lebenswelt verteidigt und des Wertkonservatismus bezichtigt wird.

Denn – bei aller pädagogisch kompensatorischer Anstrengung und allem menschlichem Einsatz, die Erzieher und Lehrer leisten – aus Sicht des Kindes sind Kindergarten und Schule nur ein Ersatz für das, was in der Familie nicht geleistet werden kann oder will. Und da können die kindlichen Bedürfnisse sehr von denen der Eltern abweichen. – Dennoch: Ganztagesangebote sind dann eine sinnvolle Alternative, wenn das Kind nicht nur »betreut«, sondern genuin familiäre Aufgaben übernehmen, die dem Kind Hülle, individuelle Entfaltungsmöglichkeiten und feste Bindungen geben.