Pädagogischer Atem

Mathias Maurer

Wir reden über dies und das und kommen auf das Thema Eltern und da bricht es aus ihm heraus: »Stell Dir vor, kürzlich in der achten, führte ich mit einigen meiner Schüler Abschlussgespräche in Bezug auf ihre Oberstufentauglichkeit. Da gab es richtig Ärger: Ich müsse doch vorher die Eltern informieren, das ginge nur in ihrer Anwesenheit!«

K. kommt in Fahrt und holt eine Geschichte nach der anderen aus dem Keller: »Die letzte Klassenfahrt – nichts darf man mehr verlangen: Keine Anstrengung, kein an die Grenzen gehen. Mit dem Fahrrad nach Spanien – was könnte ich pädagogisch dadurch erreichen! – absurd. – Handyverbot? Das ist kaum mit denen durchzusetzen. Mit Feuer und Messer hantieren? – Viel zu gefährlich, ja geradezu fahrlässig!«

Es entsteht der Eindruck, dass K. es nicht nur mit 38 Schülern, sondern mit mindestens entsprechend vielen Eltern zu tun hat.

Ich frage: »Sind sich Deine Eltern nicht im klaren, dass sie ihre Kinder auf eine Waldorfschule schicken? – Oder macht ihr da schon im ersten Elterngespräch bei der Aufnahme etwas falsch?« K. überlegt kurz: »Ja, vielleicht vermitteln wir nicht von Anfang an ganz klar, dass es Bereiche gibt, wo wir als Waldorfschule auf die Mitarbeit und Mitverantwortung der Eltern existenziell angewiesen sind – im Vorstand, bei den Finanzen, bei rechtlichen Fragen, bei Festen und allen kulturellen Veranstaltungen – aber nicht im Unterricht. Bin ich nun ausgebildeter Waldorfpädagoge oder nicht?! – Meine Tür steht Eltern immer offen, aber es geht einfach nicht, nahezu täglich mich für das, was ich tue und wie ich es tue, rechtfertigen zu müssen. Ich käme doch auch nicht auf die Idee, ihnen zu sagen, wie sie ihren Job machen sollen!«

»War denn Elternarbeit ein Thema in der Lehrerbildung?«, hake ich nach. – »Ich kann mich nicht daran erinnern«, antwortet K. »Na, dann wird’s ja Zeit«, sage ich.

»Wie würdest Du Dir denn eine gute Elternarbeit vorstellen?«, frage ich K. »Ich habe den Eindruck, dass die Eltern ihre Kinder nicht mehr loslassen können und mit ihrem Helikopterblick ihr Kind samt Lehrer auf Schritt und Tritt verfolgen. Sie vertrauen nicht nur mir nicht, sondern auch sich selbst nicht – und das Schlimmste: ihren eigenen Kindern nicht! Ich kann doch nur pädagogisch atmen, wenn die Eltern es mir überlassen, was ich aus meiner fachlichen Kompetenz heraus im Klassenzimmer mache.«

»Läuft´s also dann gut, wenn Dir die Eltern blind vertrauen?«, frage ich. »Nein, wenn ich vertrauen kann, dass mir die Eltern vertrauen.«

PS: Einige Wochen später ruft der Klassenlehrer K. wieder an – abgekämpft, aber glücklich, erzählt er mir, noch ganz beseelt von dem Abschied von seinen Eltern und seinen Achtklässlern. Es wurde gesungen, getanzt, gelacht und geweint. Eine Welle der Dankbarkeit habe ihn regelrecht überschüttet. – Gegenseitiges Vertrauen lohnt sich!