Schwungrad der Seele

Mathias Maurer

»Der Sommer! Dann bauen wir das Planschbecken auf und es gibt immer Eis!« Ich fragte den älteren Bruder Lukas, was denn seine Lieblingsjahreszeit wäre. – »Herbst! Dann kann ich endlich Drachenfliegen!« Meine Ausbeute ist zwar gering, doch gebe ich nicht auf und frage Julian. Der schweigt erst einmal, dann: »Ich glaube, ich mag den Winter am liebsten, weil es dann schön warm ist im Haus und ich in Ruhe lesen kann.« Schließlich bleibt mir noch Kerstin. »Jahreszeiten ...?«, und fummelt an ihrem Ipod herum, »... sind mir egal. Hauptsache ich kann immer machen, was ich will. Naja, vielleicht der Frühling, wenn nicht der Heuschnupfen wäre.«

Bekommen Kinder, junge, gar erwachsene Menschen die aktuellen Geschehnisse in der Natur vor Ort überhaupt noch in die sinnliche Wahrnehmung? T-Shirt, leichte Jacke und Turnschuhe – das ist die Allseason-Jahreskleidung. Weihnachten kommt nach dem Sommerschlussverkauf und Ostern nach dem Winterschlussverkauf. Im Winterurlaub Badespaß auf den Malediven, im Sommer Gletschertrekking in Nepal. Und in den Lebensmittelläden gibt es rund ums Jahr alles immer. Im Internet als Abziehbildchen sowieso. – In den Waldorfkindergärten und in der Klassenlehrerzeit der Schule ist die Pflege der Jahreszeiten und -feste eine gute Tradition. Sie helfen dem Menschen, sich als Teil des natürlichen Geschehens um ihn herum in der Welt zu beheimaten, mit den Pflanzen mitzuwachsen, mit den Blumen, Sträuchern und Bäumen aufzublühen, zu reifen wie ein goldenes Getreidefeld und zu fruchten wie ein süßer Apfel, sie helfen, die Ernte einzufahren, schließlich zu welken und fast zu verschwinden, sich wie ein Samenkorn ganz in sich zusammenzuziehen, um dann von Neuem wieder zu beginnen. Und die Übergänge der Jahres­zeiten sind die kritischsten Phasen im Jahr. Das weiß jeder Arzt oder Landwirt. Kaum hat man sich auf eine Jahreszeit eingestellt, ist es schon wieder zu kalt, zu warm, zu hell, zu dunkel, zu nass oder zu trocken.

Im Frühling, wenn alles in der äußeren Natur ausschlägt und aufblüht, fällt es schwer, sich innerlich zusammenzuhalten. Im Sommer steigert sich dieses Nichtbeisichsein zu einem dumpfen Brüten – wie Blei im Kopf. Im Herbst muss man sich der leisen, aber unaufhaltsamen Auflösung erwehren, um nicht in eine leichte Depression zu verfallen, und im Winter der zunehmenden Erstarrung widerstehen, sich von ihr distanzieren, Autonomie herstellen, und sei es in Form eines Ofens oder einer Sauna. Innerlich ist man aufgerufen, eine Gegenbewegung zu jeder Jahreszeit auszuführen: Auf Frühlingserwachen Selbstbesinnung, auf Sommerhitze gedankliche Konzentration, auf Herbststurm Gemütsruhe, auf Winterskälte Seelenwärme. Die Jahreszeiten halten – vielleicht manchem tief unbewusst – die Seele beweglich und in Schwung. Es ist ein großes Stirb und Werde.

Klein-Eva schreckt mich aus meinen Gedanken auf: »Du, warum bauen wir das Planschbecken im Winter nicht im Wohnzimmer auf? Wir können ja so tun, als ob ...«