Verloren und wiedergewonnen

Mathias Maurer

Liebe Leserin, lieber Leser!

Moral – was ist das? Und gar Tugend? Schnee von gestern? Mittelalterliche Ritterlichkeit oder mönchisches ora et labora, die protestantische Ethik, die uns zu Fleiß, Gehorsam und Pünktlichkeit aufrief, oder das anything goes im Kleide libertärer Toleranz und eines unverbindlichen Werterelativismus – chacun à sa façon.

Mit Nachhaltigkeit, Klimawandel und Energiewende erleben wir heute eine weltweite Renaissance ethischer Werte, die bis in die Leitbilder von Großkonzernen und Banken Eingang finden. Sie treiben Occupy und Arabellion, die Gegner von Globalisierung, Gentechnik und Atomstrom wie die fundamentalistischen

Koranverteiler und den Shitstorm der digitalen Bürger gleichermaßen an – wiederentdeckt, um eigenen Interessen zu dienen oder persönlicher Empörung Luft zu machen. Die Behauptung, es existiere ein gesamtmenschheitlicher Moralkodex, den jeder Erdenbürger unabhängig von einem äußeren Anlass oder Zwang verinnerlicht hätte, straft die bestialische Unmenschlichkeit und himmelschreiende Ungerechtigkeit in der Welt Lügen.

Ob Piaget, Kohlberg, Luhmann oder Habermas – die modernen Theoretiker der Moralphilosophie sehen die Genese der Moral als einen Reflex auf einen äußeren Normenkatalog, der unabhängig davon, ob autoritär, intersubjektiv oder diskursiv vermittelt, von jedem einzelnen Menschen – nolens volens – internalisiert werden muss, um nicht aus der menschlichen Gemeinschaft zu fallen.

Der Ansatz der »Moralphilosophie« Rudolf Steiners ist ein radikal anderer. Ein moralisches Leben kann nicht von außen gesetzt, sondern nur aus dem Innern des Menschen entstehen.

Waldorfschulen und -kindergärten gelten als werteorientiert, nicht weil die Erzieher und Lehrer sich als Moralapostel gefallen und den Kindern täglich Moral predigen, sondern weil sie über die Märchen und Legenden, Heiligen- und Heldengeschichten, Biographien berühmter Menschen und Beispiele aus Kunst und Literatur, ja auch über einen »uncoolen« Parzival in der Oberstufe das in ihren Seelen wecken möchten, was in ihnen veranlagt und empfänglich ist: dass jeder Mensch ein moralisches Wesen per se ist. Ein Blick in die »wissenden« Augen eines Neugeborenen zeigt: Je jünger, desto deutlicher und unverstellter kommt uns noch die Tatsache entgegen, dass die geistige Heimat des Menschen eine moralische ist: Sind Urvertrauen, vorbehaltlose Hingabe, der unbedingte Nachahmungswille, die ein kleines Kind einfach so mitbringt, nicht die höchsten Tugenden, die wir als Erwachsene erst wiedergewinnen müssen?

Es scheint, dass wir als gesamte Menschheit durchmachen, was sich bei jedem einzelnen Menschen vollziehen muss: Die moralische Orientierung zu verlieren, um sie bewusst und individuell aus sich heraus neu zu schöpfen.

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer