Wir sind Engel

Mathias Maurer

Michi und Jonas haben das Wohnzimmer auf den Kopf gestellt: Eine tücher- und deckenbespannte, wäscheklammerfixierte Landschaft. Sie tragen goldene Pappkronen auf ihren Häuptern, Kristalldrusen und Diabolo-Zepter in den Händen und ziehen mit ernsten Minen die Himmelsleiter, das heißt, vom Schrank, zum Tisch, zum Stuhl, zur Bank zum Schemelchen hinunter. Ein wackeliger Parcour.

»Und wann kommen die anderen?« – »Warte, gleich doch, die suchen noch.« – »Suchen noch ...?« – »Psst, still jetzt!« Es wird still. Ich schnippele währenddessen Karotten und Tomaten in den Topf, setze das Nudel­wasser auf und sinniere über das Gehörte: »Wie ist das mit den Engeln? – Nur Kinderkram? Stehen Kinder den Engeln noch nahe? Und kenne ich (noch) Engel? Schon mal Engel erlebt? Sicher, es gab Situationen im Leben, da hatte mein Schutzengel etwas zu tun. Oder war es reiner Zufall? Glück gehabt?«

Es ist immer noch still. Ich hänge weiter meinen Gedanken nach: »Wieso sagen wir zu einem Menschen, den wir lieben, Engel? Haben mich andere Menschen geführt und geschützt? Ja, ich kenne auch Situationen, in denen ich gerettet wurde. Als Kind vor dem physischen, als Erwachsener vor dem seelischen Absturz, Menschen, die mir geistig einen neuen Horizont aufrissen, wenn sich meine Gedanken im Kreise drehten und meine Vorstellungen zu Verstellungen wurden. Die Engelnähe stellt sich wohl nicht wie bei Kindern von alleine ein. Wie können Mensch und Engel überhaupt zusammenkommen?

Da, es geht weiter. »Siehst Du, die anderen kommen auch, sie haben uns entdeckt.« – Ich schaue vorsichtig um die Ecke. Sie sitzen auf dem Boden in einer Höhle, der eine mit Stirnlampe und Kordelseil, der andere mit Holzschwert und Leier. Das Steckenpferd haben sie vor dem Eingang festgemacht.

Jetzt bemerken sie mich. »Wir sind lahme Ritter!« – »Lahme Ritter«?« – »Er meint Samariter. Wir helfen den Armen«, korrigiert der ältere Bruder. »Ah, so!«, ich verschwinde wieder in die Küche. »Wir laden die Engel alle zur Pizza ein, denn die haben ja auch Hunger. Pizza gibt´s nur bei Engelmenschen in der Engel­wirtschaft.« – »Und weißt Du, jeder Mensch kann Engel werden!«

Dann wird es wieder eine Weile still. Das Essen ist fertig und ich gehe sie rufen. Sie sitzen auf dem Schrank. »Wir sind wieder im Himmel«, tönt es herunter. »Wir kommen nur, wenn die Menschen uns was zum Essen geben.« – »Das passt ja gut. Kommt mal runter, das Essen steht auf dem Tisch. – Essen Engel auch Spaghetti mit Gemüsesoße?«, frage ich. – »Ja, hier unten gibt’s Spaghetti und wir lernen, wie man sie isst.«

Ich denke, so ist das also, und sage: »Gut, dass wir die Engel füttern können.«