Der verlorene Übergang. Erlebnispädagogik gestaltet den Eintritt ins Jugendalter

Michael Birnthaler

Bungee-Jumping, Koma-Saufen, Tätowieren – Pädagogen und Soziologen beobachten seit den 1990er Jahren Jugendphänomene, die man als Formen der Auto-Initiation bezeichnet. Diese »Selbsteinweihungsversuche« junger Menschen markieren den historischen Moment, in dem die junge Generation begonnen hat, den Verlust der natürlichen Übergangs­rituale durch künstlich erschaffene Riten auszugleichen.

Dabei handelt es sich nicht um ein subkulturelles, sondern  um ein allgemeines Jugendphänomen: Hier sind es die »Jungs an der Ecke«, die mit Hilfe von Grenzerfahrungen beim S-Bahnsurfen ihre Selbsteinweihung suchen, dort sind es die mit Springerstiefeln, Bomberjacken und Butterfly-Messern Bewaffneten, die im Akt der rohen Gewalt über sich hinaus wachsen wollen. Wiederum andere finden ihre Grenzerfahrungen an den Grenzen ihres Körpers, ver­stümmeln ihre Haut mit Piercings oder durch Ritzen, im Sonderfall auch ganzkörperlich durch Magersucht. Aber auch die mehr und mehr an die psychischen Grenzen gehenden Jugendszenen, in denen »Ecstacy«, Trance-Tänze und Gangsta-Rap zur Methode der Selbsteinweihung gehören, lassen an ursprüngliche oder schamanische Formen von Initiationsritualen denken.

Die Peter Pan-Gesellschaft oder: Die Unfähigkeit erwachsen zu werden

Es scheint, dass junge Menschen, die auf einen gemeis­terten Übergang in die Jugend verzichten mussten, dieses Defizit auch noch nach Jahren und Jahrzehnten als biographische Hypothek mit sich herumschleppen. So verwundert es nicht, dass bekannte Forscher, wie zum Beispiel der amerikanische Kinderarzt Leonard Sax, um die heranwachsende Generation bangen. Mahnend weisen sie auf eine sich am Horizont abzeichnende Seelenkonfiguration, der in rätselhafter Weise eine bislang naturwüchsig vor­handene innere Reife abhanden kommt. So weisen Sax und andere in Studien nach, dass junge Männer in der hochzivilisierten Welt zunehmend ein juveniles, post­pubertäres Verhalten zeigen und die Jugendphase oftmals bis in die Dreißiger­jahre hinausschieben. Sozial­psychologen bezeichnen dieses gesellschaftliche Phänomen als Peter Pan-Syndrom. Es besteht darin, dass Heranwachsende zunehmend nicht mehr richtig erwachsen werden können. Verur­sacht wird es – so die Forscher – durch altersuntypische Regressionen auf frühere Reifezustände, da der Status als Erwachsener nicht ausreichend gefestigt (»kon-firmiert«) ist – beispielsweise durch eine katalysato­rische Phase von Übergangsriten. Aufschlußreich ist, dass solche Symptome keines der Völker zeigt, bei denen die Übergangsriten kulturell verankert sind.

Die Tradition der Übergangsriten ist in Mitteleuropa inzwischen beinahe versiegt. An der Oberfläche unserer Kultur und unseres Bildungswesens halten sich verblassende Rudimente, wie beispielsweise:

  • die Jugendweihe, die mit dem Niedergang des Ostblocks selbst in der Versenkung verschwindet;
  • die Firmung oder Konfirmation, die durch den Bedeutungsverlust der Kirchen ihren pädagogischen Nimbus verliert;
  • die Reifeprüfung oder das Abitur, in denen primär intellektuelle Fähigkeiten gefordert und von den Schülern entsprechend mit einer Soap-Opera, sprich »Abistreich«, quittiert werden;
  • Aufnahmeriten der Bundeswehr, bei denen leider oft nur grobschlächtige Sauf- und Prügel­rituale stattfinden.

Neue Ansätze der Jugendweihe

In der Waldorfpädagogik spielt der Übergang ins Jugendalter eine besonders große Rolle.

Dies hängt mit Darstellungen Rudolf Steiners zusammen, der die Statuspassage ins Jugendalter, den Übergang vom zweiten ins dritte Jahrsiebt, mit einer entscheidenden biographischen Veränderung verbindet. Sie kennzeichnet den Zeitpunkt der »Erdenreife« (Pubertät) und damit verbunden den Augenblick, in dem der junge Mensch sein eigenes individuelles Schicksal aufzugreifen und fortzusetzen beginnt.

Seit einigen Jahren werden intensive Versuche unternommen, die verlorene Idee der Jugendweihe in moderner Form wieder aufleben zu lassen. Das EOS Erlebenspädagogik-Institut hat im Laufe der Jahre eine Reihe von Konzepten und Methoden entwickelt, die sich zum Beispiel bei Klassenfahrten oder Ferienlagern unter dem Motto »Visionssuche« oder »Heldenreise« bewähren.

Die Heldenreise als Übergangsritus

Im Folgenden sei exemplarisch die Idee einer »Heldenreise« für Jugendliche skizziert: 

Als Ausgangssituation kann zunächst jede Klasse ab der achten Jahrgangsstufe dienen; als »Schauplatz« eignen sich besonders abgelegene Schullandheime. Dort wird die Klasse von dem gut »präparierten« Team der Erlebens­pädagogen willkommen geheißen und zunächst das Eis durch Vertrauensspiele gebrochen.

Die eigentliche Heldenreise beginnt damit, dass die Schüler den Blick auf die Ereignisse in ihrer Kindheit lenken, die für sie Hindernisse und Blockaden darstellen. Denn ein Übergang kann letztlich nur gelingen, wenn diese Elemente ins Bewusstsein gelangen und dort losgelassen werden. In dieser Phase setzen die Pädagogen alles daran, bestimmte Knoten im bisherigen Leben der Jugendlichen aufzuspüren. Sie initiieren Phantasiereisen in die seelischen Landschaften der Kindheit und szenische Übungen, das Szenenspiel »Der Narr« etwa, bei dem das Alter Ego dargestellt werden soll. In Lebensgemälden erschaffen die Kinder in einer Partnerübung lebensgroße »Wunschbilder« von sich selbst.

»Sokratische oder mäeutische Gespräche« vertiefen das Erlebnis. Ähnlich wie im Counseling wird in vertrauens­voller Atmosphäre ein Raum für »Wahrheitsgespräche« geschaffen. Mit Hilfe von Vorgaben wie »Spiegeln«, »Keine Wertungen«, »Ehrenhaftigkeit zur Wahrheit« und anderen mehr kann es gelingen, die Jugendlichen in ihrem Kern anzusprechen und zu berühren.

In der Regel ist dieser Prozess außerordentlich überraschend und bewegend, gleichzeitig aber auch wohltuend und befreiend. Kaum ein Jugendlicher hat vorher eine ähnlich intensive Art der Begegnung mit anderen Menschen in einem Klima des Zutrauens in seine schicksalhaften Zukunftskräfte erlebt.

Im »Totenhaus« nimmt der Jugendliche Abschied von seiner Kindheit

Darauf kann der nächste Schritt aufbauen, der den jungen Menschen zumutet, ihren Frieden mit dem Erlebten und Erkannten zu schließen. Methodisch kann dies durch erlebnispädagogische Mittel unterstützt werden wie die »Heldenwanderung« oder das »Totenhaus«. Bei der »Helden­wanderung« steht der Jugendliche vor der herausfordernden Aufgabe, einen ganzen Tag lang in der Natur zu bleiben, zu wandern und auf der Suche zu sein, wie ein Ritter auf einer »Queste« oder Pilgerschaft. Das äußerliche Ziel dabei ist, nach der Wanderung – die Kopf und Herz gelüftet hat – einen bestimmten Platz in der Natur zu finden. Er wird am kommenden Tag dann sein »Kraft-Platz« sein und eine wesentliche Bedeutung haben.

Erstaunlicherweise hat bereits Rudolf Steiner den ersten Waldorflehrern empfohlen, Klassenfahrten durchzuführen und dabei den jungen Menschen auf einer Wanderschaft Fragen nach deren Idealen zu stellen. Dies habe, wie Steiner erläutert, für das gesamte seelische Gefüge des jungen Menschen einen aufrichtenden, strukturierenden und orientierenden Einfluss.

Beim »Totenhaus« gilt es, von der eigenen Kindheit in beherzter Weise Abschied zu nehmen. Der Jugendliche wird gebeten, an seinem Kraftplatz eine Hütte zu bauen, die ihm als fiktives Totenhaus dient. Da er – im Kontext der Auf­gabenstellung – nur noch wenige Tage zu leben hat, muss er sich von seinen Vertrauten, seinen Eltern, Geschwistern und Freunden – aber auch Feinden verabschieden. Mit Hilfe dieser Übung wird der konsequente  Versuch unternommen, die Kindheit »sauber«, in Frieden und Versöhnung abzuschließen, um so unbeschwert den Über­gang in das Jugendalter meistern zu können.

Der Kampf mit dem eigenen Schatten

Ein unvergessliches Erlebnis können die nächsten, auf die Zukunft gerichteten Schritte sein, zu dem das bekannte »Solo« zählt. Der Jugend­liche wird dabei einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang auf die Probe gestellt: Er muss für zwölf bis vierundzwanzig Stunden auf alle Zivilisationsgüter und Annehmlichkeiten verzichten. Darüber hinaus gilt das Gebot des Fastens und des Schweigens. Diese Stunden muss er vollkommen allein in der Natur – an seinem Kraftplatz verbringen! Zahlreiche Erlebnisberichte von Jugendlichen zeugen davon, dass in diesen Stunden die Konfrontation mit sich selbst, mit dem eigenen Schatten, den persönlichen existenziellen Ängsten und Zweifeln so aufrührend ist, wie in kaum einer anderen Situation. Große Hilfen können hier fein­sinnige Aufgabenstellungen sein wie: »Schreibe deine Lebensgeschichte in die Zukunft hinein! Was soll aus dir in zehn oder zwanzig Jahren werden?« Steiner hat mehrmals jungen Menschen sogar öffentlich diese Aufgabe gestellt.

Ein weiterer Meilenstein auf der »Heldenreise« kann die sogenannte »Nachtwache« sein. Ähnlich dem alten Brauch des »Osterwasserholens« dreht sich die »Nachtwache« – wie der Name schon sagt – darum, eine Nacht lang unter besonderen Umständen zu wachen. Auch hier kann sich der Jugendliche wieder an seinem Kraftplatz befinden. Jetzt hat er stattdessen die Aufgabe, für sich eine »Kapelle« zu bauen und davor ein Feuer zu entzünden, das er die ganze Nacht lang behütet! Das Setting erinnert nicht zufällig an die Szenen von Knappen, die die Nacht vor ihrem Ritterschlag in einer Kapelle betend und meditierend, singend und sinnend verbrachten.

Als Kind gegangen, als junger Held gekommen

Schließlich ist die »Rückkehr der Helden« vom »Solo« oder aus der »Nachtwache« ein sensibler Moment. Die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft wird feinfühlig in ein spezielles Arrangement eingebettet und zum Beispiel mit den Symbolen der Schwelle, der Reinigung, des Schweigens, des Versprechens, des Verbrennens, des Schreitens durch ein Labyrinth gestaltet. Entscheidend ist bei der Wiederaufnahme jedoch die erklärte »Zeugenschaft« durch Freunde, Vertraute und Vorbilder, wenn möglich auch durch die Eltern.

Eine denkbare Erklärung, warum die Auto-Initiationen der Jugendlichen in der Regel scheitern, ist, dass die Selbsteinweihungen später nicht »bezeugt« werden, also vom per­sönlichen Umfeld nicht erkannt und gewürdigt werden und dadurch verpuffen.

Die Erfahrungen mit der »Heldenreise« als Übergangsritus für Schüler in das Jugendalter haben gezeigt, dass ihre Wirkungen erstaunlich nachhaltig und prägend sein können. Immer wieder berichten Teilnehmer noch nach Jahren, diese Klassenfahrt sei ein einschneidendes Erlebnis in ihrer Biographie gewesen, von dem starke Impulse für die persönliche Entwicklung ausgingen.

Zum Autor: Dr. Michael Birnthaler ist Leiter von EOS- Erlebnispädagogik (Ferienlager, Klassenfahrten, Team-Trainings, Ausbildungen), langjähriger Waldorflehrer (Sport, Religion), Dozent an verschiedenen Hochschulen.

Link: www.eos-ep.de

E-Mail: klassenfahrten@eos-ep.de

Literatur: Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Frankfurt 1985 | Leonard Sax: Jungs im Abseits. Die aufrüttelnde Analyse eines Kinderarztes, München 2009 | Rudolf Steiner: Menschliches Seelenleben und Geistesstreben. Vortrag vom 26.5.1922, in: GA 212, Dornach 1998 | Paul Rebillot: Die Heldenreise. Das Abenteuer der kreativen Selbstfindung, München 1997 | Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt 1999 | Michael Birnthaler: Erlebnispädagogik und Waldorfschulen, Stuttgart 2008