Des einen Überfluss ist des anderen Mangel

Judith Schake

Seit den 1970er-Jahren berät die internationale Staatengemeinschaft regelmäßig über die Bekämpfung des Hungers in der Welt. 2004 wurden diese Bemühungen in den »Freiwilligen Leitlinien der FAO (Food and Agriculture Organisation) zum Recht auf Nahrung« festgehalten. Diese fordern die Staaten auf, zu handeln, um die Zahl unterernährter Menschen bis zum Jahr 2015 zu halbieren. 

Der Hunger wächst

Tatsächlich nimmt die Zahl der Hungernden wieder zu. Derzeit leiden etwa eine Milliarde Menschen weltweit an Hunger. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Oft hängen sie jedoch unmittelbar mit dem Wirtschaftsgebaren und Konsumverhalten der Wohlstandsländer zusammen. Als wesentliche Ursachen gelten zur Zeit neben der Finanzkrise vor allem die Spekulationen mit Agrar-Rohstoffen und die damit zusammenhängenden, gestiegenen Preise für Lebensmittel, Treibstoff und Dünger sowie der weltweit steigende Fleischkonsum. Denn mit dem steigenden Konsum von Fleisch entstehen Flächenkonkurrenzen zwischen dem Anbau von Futter- und Grund­nahrungsmitteln.

Diabetes in Europa, Hungerödeme in Afrika

Dass der hohe Fleischkonsum in den Wohlstandsländern das Leben der Menschen in den Schwellen- und Entwicklungsländern erschwert, ist nicht neu. Aufgrund der weltweit wachsenden Nachfrage nach Fleisch, Milchprodukten und Eiern, bekommt das Thema jedoch eine neue Dringlichkeit. Während der Verbrauch in Europa und den USA in den letzten Jahren auf hohen Niveau stagniert, steigt er vor allem in China, aber auch in anderen Schwellenländern mit den wachsenden Konsumbedürfnissen stetig an.

In Europa hat der hohe Konsum von tierischen Produkten in den letzten Jahrzehnten dazu beigetragen, dass viele Menschen regelmäßig mehr Kalorien als nötig aufnehmen. Dadurch ist auch in Deutschland die Zahl der Übergewichtigen und der daraus resultierenden ernährungsbedingten Erkrankungen, wie Diabetes Typ 2 und Herz-Kreislauferkrankungen, kontinuierlich gestiegen.

Schlachtvieh braucht Futter

Der anhaltend hohe Fleischkonsum in Europa und den USA sowie der steigende Konsum in den Schwellenländern beeinflussen die landwirtschaftliche Entwicklung in der ganzen Welt. Um ein Kilogramm Fleisch zu erzeugen, braucht man ein Vielfaches an Getreide, Soja oder Mais. Weltweit wird daher etwa ein Drittel der vorhandenen Ackerflächen zum Anbau von Futter genutzt. Diese Fläche steht nicht mehr für den Anbau von Grundnahrungsmitteln zur Verfügung. Hinzu kommt, dass ein großer Teil der Nahrungskalorien aus den Pflanzen als sogenannte Veredelungsverluste verloren gehen. Die Tiere verbrauchen einen Großteil der Energie aus dem Futter für ihren eigenen Stoffwechsel – Energie, die beim unmittelbaren Verzehr der Pflanzen dem Menschen direkt zur Verfügung stehen würde.

Aufgrund des hohen Bedarfs an Tierfutter sind die Länder der EU sehr von Importen abhängig. Benötigt wird hauptsächlich Soja und Getreide für die Schweine- und Geflügelaufzucht. Soja ist eine der wichtigsten Quellen für Protein und muss in Deutschland zu fast 100 Prozent importiert werden. Die größten Sojalieferanten sind Brasilien, Argentinien, die USA, Paraguay und Bolivien.

Sojaplantagen vertreiben südamerikanische Bauern

Weil immer mehr Fläche für den Futteranbau genutzt wird, sind laut »Brot für die Welt« besonders kleine Pächter und Landbesitzer in Lateinamerika einem enormen Verdrängungsdruck ausgesetzt, vor allem jene, die nur über unsichere Landnutzungsrechte verfügen. In Brasilien sind über eine Million Kleinbauern nicht im Besitz der Böden, die sie bewirtschaften. Professionelle Landräuber setzen – oft im Auftrag großer Agrarunternehmer – Geld, Macht und nicht selten auch illegale Mittel ein, um die Kleinbauern zu vertreiben. Auf diese Weise werden ganze Landstriche ent­völkert und der Sojaanbau verbreitet sich, wie in der Region um Santarém in Amazonien, laut Greenpeace explosionsartig von 50 Hektar im Jahr 2000 auf 30.000 Hektar in 2008.

Da diese Form der intensiven Bewirtschaftung nur wenige Beschäftigungsmöglichkeiten bietet, sind die Kleinbauern meist gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Als Folge werden Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser geschlossen, wodurch sich zusätzlich die Bedingungen für die verbliebene Landbevölkerung verschlechtern. Dort, wo vorher extensive Weidewirtschaft betrieben, wo Getreide, Gemüse und Obst angebaut wurden, wachsen nun Hektar um Hektar Sojakulturen. Je mehr Soja als Tierfutter angebaut wird, desto weniger Menschen können sich ausgewogen ernähren.

Weitere Leidtragende sind die indigenen Völker, die von den Wäldern in ihrer Region leben. Die Gemeinschaften im Norden Argentiniens fischen und jagen, sie sammeln Früchte, Wurzeln, Schoten und Honig in den Trockenwäldern der Chaco-Region. Der dort beheimatete Johannesbrotbaum ist einer ihrer wichtigsten Lieferanten pflanzlicher Proteine. Fallen die Wälder zugunsten der Sojaplantagen, verringert sich ihr Jagd- und Sammelgebiet. Die Folge sind schwerwiegende Mangelernährung und daraus resultierende Krankheiten wie Tuberkulose.

EU-Exporte ruinieren afrikanische Milchbauern

In der gesamten EU und somit auch in Deutschland werden viel mehr tierische Lebensmittel erzeugt als verbraucht. Daher werden große Teile ausgeführt. Bis zu zwei Drittel der EU-Exporte von Milchprodukten gehen in Entwicklungsländer. Die europäischen Exporteure profitieren von den Subventionen der EU und den niedrigen Preisen für das billig eingekaufte Futter aus Lateinamerika. In den westlichen Ländern Afrikas haben tausende kleinere Milchviehbetriebe keine Chance, ihre Milch an Molkereien zu verkaufen, da diese für ihre Produkte das billigere Milchpulver aus der EU verwenden. Nachdem in Ländern wie Kamerun und Burkina Faso zahlreiche Kleinbauern ihre Existenzgrundlage verloren hatten, haben einige Länder Importbeschränkungen verhängt. In Ländern wie Ghana und Benin leiden die Bauern aber nach wie vor unter den EU-Exporten.

Zwei Fleischmahlzeiten pro Woche reichen

Während der Überfluss an fleischlicher Nahrung bei uns zu Übergewicht und seinen Folgeerkrankungen beiträgt, ist er in den Ländern des Südens mit verantwortlich für Hunger und Mangelernährung. Der hohe Konsum tierischer Produkte ist nur ein Aspekt von vielen. Doch ist davon auszugehen, dass ein reduzierter Fleischkonsum und die damit verbundene Minderung des Flächenbedarfs für Futter die Ernährung der Weltbevölkerung erleichtern werden. Dies kann allerdings nur gelingen, wenn die frei werdenden Flächen stattdessen nicht mit Pflanzen für die Bioenergieproduktion belegt werden. Denn auch hier bahnt sich immer mehr eine Konkurrenz zum Anbau von Grundnahrungsmitteln an.

Ernährungswissenschaftler empfehlen bis zu zwei Fleischmahlzeiten pro Woche. Wichtig ist dabei aber nicht nur die Menge des Fleisches, sondern auch die Wahl der Tierart und die Landwirtschaftsform, aus der die Tiere stammen. So haben Schweine und Hühner eine schlechtere Flächenbilanz als Rinder, Schafe und Ziegen. Der Futterbedarf der Wiederkäuer kann zu einem guten Teil durch Weide- und Futtergras gedeckt werden, durch Gras, das von Weideland stammt, das nicht ackerbaulich genutzt werden kann. Das Fleisch, die Eier und Milchprodukte sollten möglichst aus biologisch-dynamisch oder ökologisch bewirtschafteten Betrieben kommen. Diese verpflichten sich, ihre Futtermittel überwiegend selbst anzubauen.

Insbesondere wir in Deutschland und die anderen euro­päischen Länder sind dazu aufgerufen, unseren hohen Konsum zu reduzieren. Würden wir uns vorwiegend ovo-lacto-vegetabil ernähren, wäre das nicht nur gesund für uns, sondern eine Hilfe für die Kleinbauern in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Entscheiden wir uns dabei für ökologisch hergestellte, saisonale Nahrungsmittel aus der eigenen Region – um so besser!

 

Literatur: Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Leitlinien zum Recht auf Nahrung, 2004

Tobias Reichert: Brot für die Börse, Hamm 2012

Karl von Koerber, Hubert Hohler: Nachhaltig genießen, Stuttgart 2012

Thomas Fritz: Brot oder Trog – Futtermittel, Flächenkonkurrenz und Ernährungssicherheit, Diakonisches Werk der EKD e.V., Stuttgart / Berlin 2011