Akademischer Dialog und Waldorf-Essenz

Tomás Zdrazil

Für einen Menschen, der in der akademischen Erziehungswissenschaft zu Hause ist, ist es alles andere als selbstverständlich, dass er einen Zugang zur Waldorfpädagogik findet. Offenheit resultiert meistens aus einer existenziell bedingten persönlichen Situation, aus einem starken Erlebnis heraus. Auch bei Harm Paschen war es nicht anders.

Der ersten Berührung mit einer Waldorfeinrichtung gingen viele berufliche Jahre auf dem akademischen Boden als Assistent und bald auch als Professor für allgemeine Pädagogik an der PH Kiel voraus. Zahlreiche gewichtige Fragen hat er wissenschaftlich erörtert. Trotzdem entschieden er und seine Frau intuitiv, die eigenen Kinder in einen Waldorfkindergarten zu schicken, darunter eines mit Behinderung.

An einem Elternabend, an dem Harm Paschen als Vater teilnahm, wurde die Frage gestellt, wie man denn die Kinder, die im Garten spielen, bewegen soll, zum Essen nach Hause zu kommen. Die Kindergärtnerin antwortete ganz schlicht: »Wir machen das hier so« und klingelte mit einer kleinen Glocke. Paschen, der das hörte, war sehr beeindruckt, probierte es bei der ersten Gelegenheit aus und … es funktionierte! »Was wissen diese Menschen von Kindern, was ich nicht weiß?«, fragte er sich damals. Der Funke zündete.

Die Geographie zählte bereits zu Paschens Studienzeit in Hamburg zu seinen Lieblingsfächern. Das Bild des Geographen und forschenden Ethnologen passt zu ihm. Er war immer von der Vielfalt der Menschen fasziniert. Ihm lag es, sich auf das Fremde unvoreingenommen einzulassen und nicht gleich einen kritischen Blick darauf zu werfen. Wie leben, sprechen und denken die Anderen? Wie schauen sie die Welt an? Das hieß für Paschen noch nicht, dass man auch so leben, sprechen und denken muss. Der Außenblick soll beibehalten werden, aber das Interesse an erster Stelle stehen.

So charakterisieren die ersten Jahre seiner wissenschaftlichen Laufbahn eine Reihe von Themen, die mit Vergleichen zu tun haben, in sehr verschiedene Richtungen gehen und sich auf einem hohen Reflexions- und Abstraktionsniveau bewegen. Er war aber lange nicht sicher, was sein eigentliches Forschungsthema sei, denn alles fand er interessant, oft gerade Themen, die neu und für Andere ungewöhnlich waren. Die von ihm bearbeiteten Fragen wechselten rasch. Eine ordentliche Portion Sanguinik kommt darin zum Ausdruck. Doch schließlich ist ihm deutlich geworden, was sein zentrales pädagogisches Thema ist: die Vielfalt und der Umgang mit ihr. Die Erziehungswissenschaft steht vor der Aufgabe, mit der Vielfalt der pädagogischen Ansätze umgehen zu können. In diesem Kontext stehen seine beiden großen von der DFG geförderten Forschungsprojekte aus den 1990er Jahren, die ihren Niederschlag in mehreren Büchern fanden. Die Erziehungswissenschaft ist für Paschen eine argumentative Wissenschaft, die berufen ist, die Pädagogiken nach den von ihnen verwendeten Argumenten systematisch zu vergleichen. Seit den 1980er Jahren verläuft sein Leben überwiegend zwischen Hamburg, wo er mit seiner Familie lebt, und Bielefeld, wo er als Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft an der Fakultät für Pädagogik arbeitet.

Dank seiner Kinder wurde er in Hamburg Mitarbeiter zahlreicher Gremien anthroposophischer pädagogischer und heilpädagogischer Einrichtungen. Sein Sohn Clemens arbeitet in einem Hotel, in dem die meisten Arbeiten von Behinderten ausgeführt werden, dem ersten dieser Art in Europa. Auch hier engagiert sich Paschen ehrenamtlich. Im weltoffenen, vom bewegten Wasserelement geprägten Hamburg, geht er aber auch einer anderen Leidenschaft nach: dem Segeln. Er kann das Wechselspiel von Wasser und Wind genießen und versuchen, sich in das unsichtbare, aber sehr wirksame Element des Windes mit seinen Gedanken hineinzuversetzen. In Bielefeld lebt er jeweils einige Tage der Woche intensiv das Leben des Wissenschaftlers: Er leitete eine Zeit lang die von Hartmut von Hentig mitbegründete Fakultät als Dekan. Viele Jahre arbeitete er unter anderem im wissenschaftlichen Beirat der bekannten Laborschule und des an die Uni angeschlossenen Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF). Jahrzehnte lang bekleidete er die Funktion des geschäftsführenden Herausgebers der Zeitschrift »Bildung und Erziehung«.

An seine Gesprächspartner stellt Paschen hohe Anforderungen, indem er sich zwar schnell in den Standpunkt des Gegenübers hineinversetzen kann, gleichzeitig aber viele ergänzende Perspektiven im Bewusstsein behält und überraschende Assoziationen äußert. Man ist schlicht überwältigt und fasziniert von der Fülle seines Wissens und vom Tempo des Perspektivenwechsels und nicht zuletzt auch vom Tempo seines Sprachflusses. Die Waldorfpädagogik empfand er als pädagogische Herausforderung, der er sich mutig stellte. Er wurde zum Kenner und zeigte in mehreren Studien, wo sie in der Erziehungswissenschaft ihren Platz hat. So wurde er gebeten, in verschiedenen Organen des Bundes der Freien Waldorfschulen die Rolle eines kritischen Freundes zu übernehmen und die Prozesse, die vor allem die Waldorflehrerausbildung betreffen, beratend zu begleiten.

So war er seit 1996 bis zum Januar dieses Jahres aktives Mitglied im Ausbildungsrat und hat dadurch auch an vielen Delegierten-Treffen des Bundes der Freien Waldorfschulen teilgenommen. Wichtig war und ist sein Beitrag im »Erziehungswissenschaftlichen Kolloquium«, das vor 25 Jahren von Ernst-Michael Kranich in Stuttgart gegründet wurde. Auch mit den von ihm betreuten Dissertationen zur Waldorfpädagogik und dem von ihm herausgegebenen Reader »Erziehungswissenschaftliche Zugänge zur Waldorfpädagogik« hat er maßgeblich geholfen, der Erziehungswissenschaft die Waldorfpädagogik adäquat zu erschließen. Viele Jahre hat er deutsche Waldorfeltern im European Council vertreten und er berät die Wiener Initiative »European Network for Academic Steiner Teacher Education« (ENASTE).

Sein Anliegen ist es, die Insularität der Waldorfpädagogik aufzubrechen, indem er die Außenwelt auf ihre Leistungen hinweist und ihr Möglichkeiten zeigt, wie sie sich in ihren Interessen, Aktivitäten und Terminologien aufschließen und »dialogfähig« werden kann.

Seine intime Kenntnis der Waldorfschulbewegung führte ihn zu einer komplementären Fragestellung. Mit der unbeirrbaren Sensibilität eines keineswegs distanzierten, sondern empathischen Freundes und Beobachters fragt Paschen nach den essentiellen Qualitäten der Waldorfpädagogik, die im Prozess der – wie er ab und zu sagt – »Säkularisierung« der Waldorfpädagogik und der »Akademisierung« der Waldorf­lehrerausbildung geschwächt oder sogar vergessen werden könnten.

Harm Paschen wurde am 21. Juli 75.