Benjamin Büche und sein Engel

Johannes Greiner

Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Lawinenabsturz zu sterben, liegt bei etwa 99,9 Prozent. Benjamin Büche überlebte. Und das, obwohl er mit über 80 km/h von Felsklippe zu Felsklippe oft fünf bis zehn Meter tief fiel, von gewaltigen Schneemassen mitgerissen und teilweise verschüttet wurde. Die etwa 30 Sekunden, die der Absturz dauerte, kommen Benjamin Büche so lange vor, wie sein bisheriges Leben. Was er da alles erlebt hat, ist nicht leicht in Worte zu fassen, da das Erlebte so ganz anders ist, als alles, was man sonst so erlebt.

Es ist nicht das erste Mal, dass Benjamin Büche an der Grenze des Todes gestanden hat. Seine Eltern sind es beinahe schon gewohnt, Telefonate aus der Intensivstation zu bekommen. Besonders gravierend war ein Nahtoderlebnis vor etwa zwei Jahren, als Benjamin beim Ski-Schanzen-Springen vor vielen Zuschauern einen doppelten Salto springen wollte, aber zu schnell war und mit dem Kopf aufschlug. Kurz vor dem Aufprall – als er realisierte, dass es schiefgehen würde – verließ er den eigenen Körper. Er prallte ohne Widerstand auf. Benjamin sah alles von oben – besser gesagt von außen.

Er beschreibt, er habe seinen fallenden und liegenden Körper unter sich gesehen und sich selbst im Umkreis erlebt – als ob die Innenseite einer Kugel, deren Mittelpunkt der bewusstlose Körper ist, inwendig mit lauter Augen besetzt wäre. Kurz nach dem Sturz stand sein Körper auf und lief aus der Landebahn zur Seite. Benjamin hat das aber mehr beobachtet als selber ausgeführt. Also ob jemand anderer in seinen Körper geschlüpft wäre, der ihn ergriff und wegführte. Sein Erlebnis beim Absturz vom Mittagskogel unterscheidet sich von diesem Erlebnis dadurch, dass er nicht bewusstlos wurde, sondern überbewusst, und seinen Körper so führen konnte, dass er überlebte. Er ging also nicht aus dem Leib hinaus, sondern hatte in seinem Leib andere Kräfte und Bewusstseinsfähigkeiten zur Verfügung.

Wenige Tage vor dem Mittagskogel-Sturz war Benjamin 21 Jahre alt geworden. Seine ersten Lebensjahre verbrachte er im Engadin – in Avrona und Scuol. Die starke Natur und die vielen sportlichen Möglichkeiten bestimmten das Leben des Kindes.

Dann zog die Familie nach Salzburg. Auch da versuchte er, sich so viel wie möglich körperlich zu betätigen. Immer wichtiger wurden für ihn Zirkuskunststücke. Jonglieren mit fünf bis sieben Bällen ist kein Problem für ihn. Als Ski-Lehrer und Ski-Touren-Führer verdient er schon seit Jahren sein Geld. Mit 21 Jahren hat er einen eigenen Zirkus gegründet und ist  also ›freischaffender Lebenskünstler‹ – Zirkusdirektor.

Bewusstseinsblasen am Rande des Todes

An dem Tag des Absturzes war das Wetter relativ gut. Auch die Lawinenwarnstelle meldete: Alles in Ordnung. Benjamin selber hatte keinerlei schlechte Vorahnung. Das war speziell. Denn bei allen bisherigen Erlebnissen, die er an der Schwelle zum Tod hatte, bemerkte er zumindest im Nachhinein, wie schon vorher Anzeichen bestanden, dass etwas nicht stimmte. An diesem Tag war es nicht so. Alles schien richtig zu sein.

Die Route, die er mit zwei Freunden wählte, wird nicht oft befahren. Benjamin schätzt, dass jährlich etwa zehn Menschen diese Abfahrt nehmen. Er selber ist sie schon oft gefahren – immer ohne Probleme. Die drei jungen Männer waren gut ausgerüstet und freuten sich. Von der Bergstation auf der anderen Seite des Gipfels mussten sie noch etwa anderthalb Stunden aufsteigen, um dann von der Rückseite des Mittagskogels die Abfahrt zu wagen. Benjamin wollte zuerst fahren. Er spürte die Verantwortung für die anderen und wollte den Weg ausprobieren. Der Hang ist zu Beginn so steil, dass jedes Umfallen den Tod bedeuten würde. Man muss die Bögen richtig hinbekommen, sonst stürzt man in den Abgrund. Es gibt keinen Halt und nichts, was einen auffangen könnte.

Schon nach wenigen Metern brach der Schnee ein und eine Lawine löste sich, die Benjamin mitriss. Während er durch die Luft flog und den nächsten Felsvorsprung näherkommen sah, auf den er aufprallen würde, begann sich sein Bewusstsein in verschiedene Ebenen zu differenzieren. Er beschreibt sie als Bewusstseinsblasen, die parallel zueinander, aber sich gegenseitig beeinflussend, erlebbar waren.

Zunächst war da die Gewissheit des Todes. Wie eine tickende Uhr durchfuhr es ihn in regelmäßigen Abständen, dass der Tod kommen würde. Diese Bewusstseinsblase löste ein anderes Bewusstsein aus, das parallel dazu ablief. Er sah vor sich, warum er nicht sterben wollte. Er sah alle Menschen, mit denen er verbunden ist. Er sah seine Familie, seine Freunde, die nahen und die fernen Bekannten. Er sah sogar Menschen vor sich, die er noch nie getroffen hatte, die aber schon von ihm gehört hatten. Und er sah das Leben jedes einzelnen dieser mit ihm verbundenen Menschen. Er sah ihre Vergangenheit und ihre Zukunft – doch alles in Einem –, so dass er sich im Nachhinein nicht mehr klar daran erinnern konnte. Er spürte Bande, die ihn mit all diesen Menschen verbanden und ihn im Leben hielten.

Er sah auch seine Vergangenheit – die bisherigen 21 Jahre – und seine Zukunft – doch nicht so, dass er sich danach noch genau erinnern konnte.

In einer anderen Bewusstseinsebene spürte er all das Gelernte und Erübte, das ihm seine vielen sportlichen, artistischen und anderen Tätigkeiten brachten. Seine koordinatorischen und körperbeherrschenden Fähigkeiten lagen in einem Moment alle vor ihm, wie die verschiedenen Farben in einem Farbkasten vor dem Maler. Als er von der Walze der Lawine nach unten gezogen wurde und drohte, von den großen Schneemassen zerdrückt zu werden, machte er eine Rolle und tauchte dadurch in der herabprasselnden Lawine wieder an die Oberfläche. Er konnte seine Fähigkeiten voll einsetzen. Im Nachhinein sagte er, dass es zeitweise sogar Spaß gemacht habe – wie das Reiten auf einer Welle.

Er nahm aber noch mehr wahr. Intuitiv war ihm während dieser halben Minute des Stürzens klar, dass alles sein eigenes Bewusstsein hat. Jeden Fels spürte er und fühlte dessen Bewusstsein. Jedes Schneekörnchen nahm er wahr. Und die Lawine als Ganzes hatte für sich auch ein Bewusstsein.

Im Nachhinein dachte er, dass man das, was man im Mittelalter als Drachen bezeichnete, dem zu widerstehen es der überirdischen Kräfte eines Helden oder göttlicher Hilfe bedurfte, auch mit einer Lawine gleichsetzen könnte. Die Lawine war der Drachen, mit dem er am Rande des Todes tanzte. Und er fühlte das Bewusstsein dieser Lawine auch in seinem Bewusstsein. Er war mit dem ganzen Berghang geheimnisvoll Eins.

Auch Schneeflocken haben ein Bewusstsein

In den Tagen danach wurde Benjamin immer wieder gesagt, er habe einen guten Schutzengel. Bis dahin hatte er sich noch keine Gedanken über Engel und andere übersinnliche Wesen gemacht. Nun fragte er sich, ob er vielleicht den Engel wahrgenommen hatte? Dabei erinnerte er sich an Folgendes: Er lebte während des Sturzes in verschiedenen Bewusstseinsschichten. Da war die Gewissheit des Todes, das Erlebnis der Verbundenheit mit vielen Menschen, das ihn am Leben hielt, das Bewusstsein seiner eigenen Fähigkeiten und das Erleben des Bewusstseins der Felsen, der einzelnen Schneepartikel und der Lawine als Ganzes – des Drachen.

Zwischen sich selber mit den sozialen Verbindungen und seinen Fähigkeiten und den Felsen und dem stürzenden Schnee und deren Bewusstsein erlebte er Beziehungen, die er als farbig und schön geschwungen wie bewegte Regenbogenlichter beschreibt. Diese Beziehungen harmonisierten seine Bewegungen und die Gegebenheiten der Umgebung. Dass er mit seinen Fähigkeiten und seinen sozialen Bezügen, die ihn ans Leben banden, in jedem Augenblick sich richtig verhalten konnte im Zusammenhang mit den Gewalten der Lawine und den Felsen, verdanke er diesen farbigen Beziehungen zwischen sich und der Umgebung.

Was da wirkte im Zwischenraum – im Intervall – zwischen ihm und der Natur, das ermöglichte das perfekt getimte Zusammenspiel seiner Bewegungen und der Bewegung der Lawine, dem er sein Leben verdankte. Benjamin meint, dass in diesem Zusammenwirken sein Engel erfahrbar war.

Kurz vor dem letzten Aufprall, der ihn endgültig unter der Lawine zu begraben drohte, gelang es ihm, die eine Hand bis auf die obere Brust zu bekommen, wo er den Airbag öffnen konnte, den er in seinem Rucksack hatte. Dieser öffnete sich tatsächlich und schützte ihn. Dann kam der ganze Staub noch nach, und er lag mit geöffnetem Airbag unter Schnee und Staub. Er schaffte es, sich aufzurichten und zu befreien. Woher er diese Kraft hatte, war ihm selbst ein Rätsel. Er gab einen lauten, schrillen Ton von sich, um den Freunden zu zeigen, dass er lebte. Er telefonierte mit ihnen, die noch fassungslos oben standen und glaubten, ihren Freund eben verloren zu haben.

Sie kamen nach, um sich um ihn zu kümmern. Die angerufene Berghilfe konnte aber keinen Helikopter einsetzen, da es schon zu neblig war. Der Abend kam näher und die Kälte nahm zu. Wären sie oben geblieben, hätten sie die Kälte der Nacht wohl kaum überlebt. Dem Verletzen wurde ein Ski gegeben und mit einem Ski-Stock, der durch die Ärmel seiner Jacke geschoben wurde, eine Stützvorrichtung improvisiert. Da Benjamin vor Schmerzen schrie, gaben sie ihm ein Stück Plastik von einem der Rucksäcke in den Mund. So rutschte und stolperte er sechs Stunden Richtung Tal. Die letzte halbe Stunde des Weges durfte er auf den Schlitten liegen, den die entgegenkommende Bergrettung mitbrachte.

Auf der Intensivstation wurde dann erstaunlicherweise festgestellt, dass er keinen einzigen Bruch hatte. Doch waren die Beine stark gequetscht. Als Benjamin mich nach zwei Wochen besuchte, konnte er Treppen noch immer nur rückwärts auf- und absteigen. Der Körper war schon relativ gesundet, der Geist aber noch dauernd beschäftigt mit den Bildern. Der Tod war noch immer so nah, dass der Extremsportler sogar auf der Straße Angst hatte, angefahren zu werden und doch zu sterben. Das Erlebte forderte intensivste gedankliche Verarbeitung. Noch viele Wochen lang war er irritiert. Lebte er noch oder war er tot? Was war real? War das alltägliche Leben real oder eine Illusion? Das Erleben einer anderen Realität stellte die alltägliche Realität in Frage. Er suchte viele der Menschen auf, deren gefühlte Verbindung zu ihm ihn im Sturz am Leben hängen ließ. Er möchte nun bewusst diese Verbindungen pflegen. Sein Leben wird nicht mehr so sein wie vorher. Diese halbe Minute, die gefühlt so lange war wie sein bisheriges Leben, hat alles verändert.

Benjamin meint, dass das von ihm Erlebte nicht allzu exklusiv sei. Jeder hätte das Glück haben können, einen solchen Sturz zu überleben. Er sei da nichts besonders.

Zum Autor: Johannes Greiner ist Musiker, Eurythmist und Lehrer für Singen und Orchester an den Steinerschulen Münchenstein und FOS Muttenz und Dozent an der Akademie für anthroposophische Pädagogik in Dornach. Seit 2005 im Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz. Er ist der Onkel von Benjamin Büche.