Der Eurythmie steht ihre Zukunft noch bevor. Fragen an den Eurythmie-Professor Erik Dom

Erik Dom

Erziehungskunst | Herr Dom, ist die Eurythmie ein ernst zu nehmender Bestandteil der heutigen Kulturlandschaft?

Erik Dom | Die Eurythmie wurde Anfang des vorigen Jahrhunderts von Rudolf Steiner als Kulturimpuls in die Welt gestellt. Diese neue Kunst wurde in einer Zeit geschaffen, in der unglaublich viele neue Impulse im kulturellen Bereich vor einem Durchbruch standen. Denken Sie nur an Phänomene wie den »Blauen Reiter« oder den »Unanimismus« eines Jules Roland und Lewis Sinclair, der die Anschauung vertrat, dass der Mensch in allen seinen Lebensäußerungen eins mit einem höheren Universalwesen ist, oder die Erneuerung der Tanzkunst durch Isadora Duncan und Mary Wigman. Es folgten zwei verheerende Weltkriege, die viele dieser Neuerungen und Initiativen zunichte machten. In dieser Aufbruchszeit einer neuen Ära pflanzte Steiner den Keimling einer neuen Bewegungskunst.

EK | … und was wurde daraus?

ED | Es fing ganz bescheiden an. Lory Maier-Smits, eine junge Frau, suchte einen Beruf, der mit Bewegung zu tun haben sollte. Rudolf Steiner fing an, ihr Übungen und Anweisungen zu geben. Sie sollte Bilder betrachten, sich in eine Satzmelodie einhören und mit den Füßen schreiben. Sie sollte einen mit Kupferdraht umwickelten Holzstab führen und ihre Gestalt als Laute erleben, indem sie sich im Raum bewegte, und zwar farbig … Das kann man alles heute in der Rudolf Steiner-Gesamtausgabe nachlesen. Die Eurythmie war in dieser Anfangszeit eng mit dem Sprachimpuls von Rudolf und Marie Steiner verbunden.

EK | Warum ist die Eurythmie als Kunstform kaum in der Öffentlichkeit präsent, abgesehen von einigen Aufführungen, die meist von Insidern besucht werden? Darüber hinaus ist sie nicht unbedingt das beliebteste Unterrichtsfach der Waldorfschüler.

ED | Steiner betonte oft, dass diese Kunst noch sehr in den Anfängen steht, dass sie gewissermaßen ein Baby unter den anderen Künsten ist, die eine große und reiche Tradition vorzuweisen haben. Heute, nach fast hundert Jahren, ist die Eurythmie – wenn wir ehrlich sind – noch nicht viel weiter gekommen als zu Steiners Zeiten. Das Gros der Aufführung findet nach wie vor an Orten statt, wo entweder eine Waldorfschule, eine anthroposophische Gruppe oder die Christengemeinschaft für das nötige Publikum und Interesse sorgt. Über eine Woche Abend für Abend vor ausverkauftem Haus eine Aufführung zu geben, so wie es andere darstellende Künste vermögen, hat noch keine Eurythmiegruppe geschafft. Wir sind also weit davon entfernt, Eurythmie als Kulturfaktor bezeichnen zu können.

EK | Woran liegt das?

ED | Ich kenne keine Kunst, in der die Ausübenden, in dem Fall die Eurythmisten, diese Kunst selbst ständig in Frage stellen, indem sie fast ununterbrochen an jedem, der diese Kunst weiterentwickeln möchte, Kritik üben. In keiner Kunstrichtung leben so viele sich widersprechenden Meinungen über das, was gilt und was nicht, so dass eine fruchtbare Entwicklung erschwert wird. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich viele Eurythmisten entweder wenig oder gar nicht mit der Quelle dieser Kunst, nämlich der Anthroposophie, beschäftigen oder die Eurythmie als Selbsttherapie oder Flucht in eine Welt verstehen, die nur noch mit dem eigenen Befinden zu tun hat. Dabei suchen heute viele junge Menschen nach spirituellen Erfahrungen.

EK | Wie geht es weiter?

ED | Vor etwa zwanzig Jahren waren die Eurythmieschulen noch gut besucht. Kurse von zwanzig bis dreißig Studierenden waren keine Ausnahme. Heute gibt es Ausbildungen mit drei bis fünf Studierenden pro Kurs. Man hat versucht, die Ausbildungen mehr auf die Pädagogik auszurichten, man hat sie mit den Waldorflehrerseminaren verknüpft. Das alles sind jedoch Notlösungen. Mit einer Kunstausbildung haben diese Maßnahmen wenig zu tun. So lange die Eurythmie nicht als neue Kunst verstanden wird, als eine Kunst, die unendlich große Möglichkeiten in sich birgt, so lange wird die Eurythmie keinen Durchbruch erleben und stetig an Substanz verlieren. Eine dringende Neuorientierung ist notwendig, eine Ausrichtung auf Er­leben und Wahrnehmen anstelle von Belehren und Reproduzieren von Inhalten.

EK | Wie könnte so eine Neuausrichtung aussehen?

ED | Eine Voraussetzung dafür sind Menschen, die ernsthaft einen Übungsweg gehen, an einfachen Phänomenen intensiv arbeiten und sich darüber in aller Offenheit austauschen. Es braucht Menschen, die sich mit der Schulung der Wahrnehmung und genauer Beobachtung innerer Erlebnisse beschäftigen. Die Anfänge sind bescheiden und haben sicher nichts Medienwirksames. Ein Beispiel ist das Buch »Aufbruch ins Unerwartete« von Arthur Zajonc. Die Eurythmie ist eine Kunst, in der durch die Schulung des Bewegungsmenschen neue Quellen des Wahrnehmens erschlossen werden, so dass ein unmittelbares Gewahrwerden des Ätherischen ermöglicht wird. Eurythmie ist ein wirksames Gegenmittel gegen die Kräfte der Verknöcherung, die heute leider auch bis in die anthroposophisch orientierten Einrichtungen und Hochschulen spürbar sind.

EK | Das sagen Sie, obwohl Sie kürzlich zum Professor an der Freien Hochschule Stuttgart ernannt wurden?

ED | Ja, das sage ich in dem Bewusstsein, dass es gerade die Kunst ist, die sich auf Hochschulebene behaupten muss, damit sie von innen her Umwandlungen positiv gestalten und begleiten kann. Das heißt, dass ich als Eurythmist versuchen muss, Schritte im inneren Umgang mit mir selbst und mit dem Medium der sprachlich-musikalischen Gesten so authentisch zu vermitteln, dass der übende Mensch unmittelbar beim Studierenden, Zuschauer oder Mitüben­enden geweckt wird. Gerade die eurythmische Kunst, deren wahre Dimension sich noch nicht entfaltet hat, birgt umfassende Möglichkeiten, aber auch Aufgaben in sich: Zum einen bereitet sie die Studierenden darauf vor, Anthroposophie nicht rein intellektuell aufzunehmen, sondern fordert die innere Beweglichkeit, die erst ein fruchtbares Eindringen in die Geisteswissenschaft ermöglicht; zum anderen bietet sie für jeden die Chance, den inneren Menschen wahrzunehmen und aus dessen Kräften heraus sein Tun zu gestalten. Besonders in der heutigen Zeit ist es für viele Jugendliche äußerst schwierig, ihren Weg und ihre Aufgabe zu erkennen. Hier kann die Eurythmie als Kunst eine Brücke schlagen zwischen innerer Befindlichkeit und äußeren Anforderungen, so dass durch authentische Erfahrungen Lebenssicherheit entsteht.