Der Märchenerzähler von Bersive

Reta Lüscher-Rieger

»Ich bin Mr. Hameed.« Hammed lacht, »alle nennen mich so, also mache ich das auch.« Hameed Jirdo Murad wurde als jüngstes von sechs Kindern geboren und wuchs in einfachen Verhältnissen auf. Er sei ein neugieriger und schlauer Junge gewesen, etwas, das sich bis heute erhalten hat. Wir sind zu ihm nach Hause eingeladen, ein einfaches Zelt, in dem er mit seiner Frau und vier seiner Töchter wohnt, seit er vor den Kämpfern des Islamischen Staats fliehen musste. Es ist ordentlich, sauber, ja schön hier. Ein paar Stufen aus Steinen, von Blumen gesäumt, führen auf einen kleinen Vorplatz. Im Zelt steht ein Fernseher, Hameed stellt ihn an. »Mein Lieblingssender, CNN«, sagt er und lacht, »wie sollte ich sonst weiter Englisch üben?« Die Sprache hatte er sich mit einem anderen Häftling und mit Hilfe eines Wörterbuchs selbst beigebracht, als er während des Iran-Irak-Kriegs in Gefangenschaft geriet. Später arbeitete er als Übersetzer für das amerikanische Militär. Am meisten Freude habe ihm die Arbeit für einen Arzt bereitet. »Hier habe ich etwas Sinnvolles gelernt – wie man Leben rettet. Was bringt mir ein Schießtraining, wenn ich ohnehin keine Waffe benutzen würde?« Das Angebot, nach der Abreise der Amerikaner in die USA auszuwandern, schlug er aus. Immerhin sei er im Irak geboren und hier wolle er auch sterben.

»Kommen wir zum 3. August 2014«, fährt Hameed fort. An diesem Tag ist er in Dohuk, erfährt dort, dass der IS in die Sinjar Region eingefallen ist. Seine Familie flieht ohne ihn zu Fuß nach Syrien und von dort aus zurück in den Irak. In der Stadt Zakho treffen sie sich wieder und leben die nächsten Wochen ohne Hab und Gut in einem Park. Aus Stangen und Tüchern bastelt Hameed eine Unterkunft; für einige Wochen arbeitet er als Übersetzer bei einer Hilfsorganisation. Nach vier Monaten zieht die Familie in ein kurzfristig errichtetes Flüchtlingslager. »Der Boden war überschwemmt, Strom gab es keinen, gekocht wurde über Holzfeuer«, es fällt ihm sichtlich schwer, darüber zu sprechen.

Dann erinnert sich Hameed an einen weiteren Tag. Es war der 15. März 2015, als er beginnt, für die Friends of Waldorf Education (FWE) zu arbeiten. Er beobachtet, wie ein Notfallpädagogik-Team Aktivitäten für die vielen im Lager umherschweifenden Kinder anbietet. »Ich habe mich gefragt: Warum kommen diese Leute aus Deutschland, um unseren Kindern zu helfen?« Als er die Kommunikationsschwierigkeiten bemerkt, springt Hameed als Übersetzer ein. Schnell zeigt sich, dass er mit seiner menschlichen Wärme und Neugier viel mehr als nur hilfreiche Englischkenntnisse mitbringt.  Er wird Teil und Herz des lokalen Teams, das seit drei Jahren jeden Tag mit den Kindern in den Bersive-Camps arbeitet. Er ist bei den anfangs provisorischen Angeboten und später beim Aufbau des Kinderschutzzentrums dabei. In all dem Chaos, das sein Leben umgab, hat er es geschafft, sich eine innere Ordnung und Freude zu erhalten, die er nun weitergibt an die Kinder. Er ist derjenige, der all die Kleinigkeiten bemerkt, die so wichtig sind, um einen sicheren und behaglichen Ort zu schaffen. Auch an seinen freien Tagen lädt er Kinder ein, malt mit ihnen, bietet Schulungen für die Eltern an.

Das Herz wieder öffnen lernen

Immer wieder staunt Hameed aufs Neue über die Bilder, in denen die Kinder ihre eigenen Geschichten, Gedanken und Träume erzählen. Dank der Ausbildung in einfachen kunsttherapeutischen Methoden, weiß er das Malen bewusster anzuleiten und die Bilder besser zu verstehen. Neben dem Malen hat das Märchenerzählen es ihm besonders angetan. Auch bei unserem Besuch wird es nach dem Obst-Snack still im Kinderschutzzentrum. Hameed holt seinen Märchenkasten, in dem er mit einem einfachen Mechanismus selbstgemalte Bilder passend zur Geschichte durchlaufen lässt. Er erzählt so lebendig, dass auch wir Besucher gespannt lauschen – obwohl wir kein Kurdisch verstehen.

Hameed hat das, was so wichtig für die Arbeit mit traumatisierten Kindern ist: Liebe, eine kindliche Freude, Interesse und Offenheit. Die Tätigkeiten im Kinderschutzzentrum scheinen etwas in ihm zum Klingen zu bringen, das ohnehin schon da war. Er schätzt es, immer wieder Neues zu erfahren. Neben den Methoden und dem Fachwissen habe er während der internationalen Einsätze vor allem gelernt, wie wichtig Geduld und Ruhe in der Arbeit mit betroffenen Kindern sei: »Ich möchte ihnen den notwendigen Raum geben, ihr Herz wieder zu öffnen. Ausgelernt habe ich noch lange nicht, die Arbeit mit den Einsatzteams ist immer wieder ein neuer Gewinn.« Er sei dankbar für die Arbeit, auch weil er dadurch seine Familie gut versorgen könne und sie das Nötigste für ein Leben in Würde besitzen. Hameeds Frau folgt dem Gespräch und ergänzt, dass Hameed schon immer ein Mensch gewesen sei, der vor allem anderen helfen möchte. Die Arbeit mit FWE gibt ihm die Möglichkeit, Kindern in der schwierigen Lebenssituation, in der er selbst lebt,  ein heilendes Umfeld zu schaffen. Sein Traum ist es, mit seiner Familie bald in die Heimat zurückkehren zu können. Er möchte dort wieder ein Leben aufbauen, einen Kindergarten gründen und all sein Wissen weitergeben.

Zur Autorin: Reta Lüscher-Rieger arbeitet in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners – Notfallpädagogik.